Warnhinweis: Zur philosophischen Ironie bei Kant

(Nov 2021 :: 1659 Wörter)

Die Sonderform philosophischer Ironie, die sich nach meiner Auffassung bei Kant im Sinne eines methodischen Vorgehens in der Komposition des gesamten Werkes zeigt, und zwar vor allem performativ zeigt, ist durchgängig geknüpft an eine <hypothetisch-deduktive Methode>, auf der die Gedankenführung im Ganzen wie auch in den einzelnen Teilen des Werkes beruht.

Hypothesen und Ironie kommt dabei stets die Aufgabe einer Art Eröffnung oder eines Anreizes zur wissenschaftlichen, philosophischen Auseinandersetzung mit einem Thema, einem Gegenstand zu. Viele Sätze, Ausdrücke, Passagen wollen gar keine Lehrstücke sein, zum Mitschreiben und Behalten von Wahrheiten gedacht. Nein: sie wollen anstoßen, anschieben, einen ersten Akkord, ein Motiv bilden, mit dem dann die Gedankenarbeit loslegen kann.

Eine erste Reaktion auf derartige Interpretationsansätze wird bei manchen Menschen sein: nun soll kantische Philosophie der ‚Ernst‘ entzogen werden, nun wird alles zum Witz erklärt, oder wie? Das darf nicht sein, das kann nicht sein, darum ist so ein Ansatz verwerflich und wir wollen uns gar nicht näher damit befassen.

Ich antworte: viele Menschen haben heute verlernt, von welch ungeheurem Wert Hypothesen für die philosophische Arbeit sind. Ich meine, es lohnt sich, den eigenen Dogmatismus, wenn ich es hier einmal so bezeichnen darf, einer kritischen Prüfung zu unterziehen, und ich bin überzeugt, dass eine Einsicht in den Wert nicht-dogmatischer Zugangsweisen zu Wissen, Erkenntnis und Selbsterkenntnis keinesfalls weg von der Transzendentalphilosophie und der kritischen Methode Kants führt, sondern dass sie uns im Gegenteil näher und besser mit ihr bekannt machen wird.

Ich verstehe den gesamten Korpus Kantischer Schriften als von Anfang an geplante Inszenierung einer Argumentation, die eine Gedankenführung ausbildet, die viele absichtlich einkomponierte Volten und retardierende Momente aufweist, Spannungsbögen und dramaturgische Elemente kennt und die LeserInnen mitnimmt auf ein philosophisches Suchen und Finden, wie es interessanter kaum dargeboten werden könnte. Immer wieder durchdringen sich suchende Erörterungen, Antithesen, Deduktionen, Begriffsbestimmungen, unter anderem auf dem Feld der Logik und Metaphysik. In einem großen Bogen werden zum Beispiel Verstand (Analytik, erste Kritik) und Vernunft (Dialektik und Methodenlehre, erste Kritik) und Urteilskraft (dritte Kritik) zusammengespannt. Wenn ausgehend von einem Besonderen, über das man Gewissheiten hat, Allgemeines zunächst problematisch angenommen und unter bestimmten Bedingungen auf eine allgemeine Regel geschlossen werden kann, liegt, so Kant, der hypothetische Gebrauch der Vernunft (erste Kritik) und, genauer bestimmt, die reflektierende Urteilskraft (dritte Kritik) vor. Beide Ausdrücke beschreiben ein suchendes Verfahren. Dieses Suchen – an anderem Ort bei Kant auch als zetetisch bezeichnet – steht im Zentrum einer Metaphysik, die wissenschaftlich fundiert und Erkenntnis erweiternd arbeitet. Selbst wenn wir über Grundsätze, Kategorien, begriffliches Wissen und logische Regeln verfügen, wird nichts ausgerichtet ohne Erfahrung, die hinzukommen muss (Erste Kritik, B 165), und ebenfalls rein gar nichts ohne vorgreifende, hypothetische, regulative Vorgehensweisen. Die dritte Kritik klärt auf über den methodologischen Stellenwert der Zweckmäßigkeit; diese Kritik nutzt die Ästhetik im Sinne der Methodologie – weshalb es in diesem Buch nicht um Kunst-Schönheiten geht, sondern um die kluge Umwertung der auf dem Feld der Ästhetik etablierten Begriffe für die (transzendentale) Logik und Wissenschaftsphilosophie.

Aber nur, wenn wir uns von den durch die Forschung jeweils genau untersuchten einzelnen Schriften Kants ein wenig lösen und das gesamte philosophische Werk im Zusammenhang betrachten, werden wir die Besonderheit des suchenden und findenden Gedankenganges, sprich: des hypothetisch-deduktiven Verfahrens und dessen performativen Charakteristiken im Ganzen, und das heißt auch: in seinem systemphilosophischen Anspruch, sehen und erkennen können.

Schon bei Platon wird der jeweilige Ausgangspunkt einer gedanklichen Untersuchung oder eines Dialogs durch das gebildet, was dort ‚Hypothesis‘ heißt. Auch bei Kant werden Annahmen und Setzungen gemacht und jeweils im Anschluss geprüft und untersucht; auch hier findet, wie ich an verschiedenen Stellen ausgeführt habe, ein Dialog statt, nämlich ein Dialog mit den LeserInnen.

In solchen Kontexten sind Hypothesen gar nicht primär auf ihre Wahrheit oder Falschheit hin gemünzt; sie erfüllen vielmehr eine zentral wichtige Funktion im Lern- und Erkenntnisprozess. Stellt sich später heraus, dass sich eine Hypothese, mit der z. B. für einen bestimmten Diskurs der Anfang gemacht wurde, im Anschluss an Prüfung und Untersuchung als unhaltbar, als untauglich, als gewissermaßen <überwunden> erweist, dann ist es nicht nötig, sie kopfschüttelnd für immer auf den Schrottplatz der Philosophie zu verbannen, schon gar nicht sollte man wünschen, man hätte niemals Umgang mit ihr gehabt: Nein, sie bleibt immer Teil des (im Falle Kants oder Platons inszenierten) Lernprozesses und hat ihren Ort in einer Art Grenzbereich, der den Rand des Feldes des bestmöglich abgesicherten Wissens bildet.

Vielleicht kommt sogar der Tag, an dem man auf sie zurückkommen wird, sie erneut Anwendung finden wird und z. B. eine weitere Bearbeitung eines Gedankens anstoßen kann.

Dasselbe gilt für die Anwendung bestimmter rhetorischer Mittel, in die Hypothesen eingekleidet werden können, etwa: Doppelbödigkeit oder Ironie, auch Satire, Spott, Parodie. Insofern sie in einem geordneten philosophischen Rahmen zum Einsatz kommen, und um einen solchen handelt es sich im Falle der Philosophie Kants, stehen sie stets im Dienst der Auseinandersetzung mit Theorien, Geltungs- und Wissensansprüchen. Im Ganzen bewahren solche Vorgehensweisen uns vor der Idee, wir könnten die Wahrheit besitzen. Im Ganzen sollten wir SkeptikerInnen werden und bleiben, was nicht bedeutet, dass man zu keiner Zeit zu bestimmten (vorläufig) fertigen, nämlich gut begründeten, Einsichten und Ergebnissen kommt.

Ich schlage mit Blick auf Kants Werk vor, von einer Sonderform philosophischer Ironie zu sprechen, weil seine unglaublich geniale rhetorische Fähigkeit darin besteht, ironische und doppelbödige Passagen auf eine Weise mit den geradeaus geäußerten Sätzen zu kombinieren und zu vermischen, dass es die LeserInnen sehr oft vor Herausforderungen stellt (die sich aber durchaus bewältigen lassen). Indem in der Regel nur äußerst subtil vorgewarnt wird, Vorsicht, hier kommt jetzt ein uneigentlich gemeinter Ausdruck, Achtung, es folgt Ironie oder Spott, passt lieber auf, nicht alles von dem, was folgt, hat denselben Status oder darf berechtigterweise dieselbe philosophische Geltung beanspruchen, wird die Lektüre anstrengend und verlangt fortwährend nach Besinnung und Reflexion bei den LeserInnen. Fortwährend sind wir aufgerufen, zu unterscheiden: in welchem Geltungsbereich ist ein Satz, eine Aussage philosophisch-legitim, also: gerechtfertigt? Habe ich schon alle Kriterien, um das beurteilen zu können, oder fehlt eventuell noch ein Aspekt? Hatte der Autor nicht drei Jahre zuvor in einem anderen Text etwas anderes behauptet? Welchen Stellenwert hatte das damals? Weiß ich vor dem Hintergrund des Textes, vor dem ich gerade sitze, vielleicht nun besser Bescheid über gute philosophische Antworten auf eine Frage, als vorher?

Oft bekommt man dadurch wichtige Hinweise geliefert, dass man Passagen als indirekte Zitate und Bezugnahmen auf z. B. andere philosophische Autoren enttarnen kann. Gelingt einem das, wird recht schnell klar, dass die entsprechenden Sätze hypothetische Geltung haben, und hier bei Kant nicht aus historischem Interesse verwendet werden, sondern als kontrastive Grundlage der argumentativen Absicherung der eigenen Philosophie fungieren.

Hypothesen und Ironie als Charakteristika der Methode Kants, die das Gesamtwerk zusammenspannt, verstehe ich als Teil einer immer wieder auch in Rätseln auftretenden Gedankenarbeit. Diese Rätsel erzählt sich der Autor natürlich nicht selbst, sondern sie sind Teil des erwähnten Dialogs mit den LeserInnen. Viele Passagen im Gesamtwerk sind demnach Verrätselungen, und in diesem Sinne wären Begriffe und Ausdrücke, die innerhalb dieser Verrätselungen verwendet werden, als prä-terminologisch aufzufassen: sie stellen Instrumente innerhalb des Diskurses dar, aber sie sind nicht Präsentationsweisen endgültiger Wahrheit.

Warum aber streben denn Menschen ganz offensichtlich lieber nach Wahrheiten als nach Wahrscheinlichkeiten? Was ist der Grund für ständige Herrschsucht und das Streben, den Gegner zu schlagen und zu vernichten – auch und gerade im modernen Wissenschaftsbetrieb? Warum würdigt man z. B. durch Experimente oder Studien widerlegte Hypothesen oder Modelle nicht in derselben oder wenigstens ähnlicher Weise wie durch Experimente bestätigte? Man hat ihnen ja klarerweise häufig eine Menge zu verdanken.

Eine Antwort könnte sein: weil wir nicht konditional denken, sondern apodiktisch. Was erreicht wurde, soll standpunktlos und für die Ewigkeit stimmen. Die Person, deren Licht am hellsten scheinen soll, möchten viele Menschen häufig selbst sein, und das, verbunden mit der heute üblichen Form der Selbst-Reklame allüberall, führt auch im Wissenschaftsbetrieb zur Förderung von bestimmten Haltungen und einem bestimmten Auftreten.

Wir meinen vielleicht, wir haben Dogmen aller Art hinter uns gelassen, aber nein, sie kommen im Verborgenen zurück und sind möglicherweise von größerer Bedeutung, als sie es je zuvor waren, weil sie sich nun nicht mehr um Mythen oder Gottesbilder herum anordnen, sondern, schlimmer: die Methode an der Wurzel verderben. Wenn sich diese Methode dann auch noch den Vorstellungen und Forderungen marktwirtschaftlichen Denkens unterordnet, rückt eine konditionale Idee von Wahrheitsfindung und eine viel radikalere Möglichkeit, wie wir wirklich gemeinsam das Denken und Philosophieren voranbringen könnten, anstatt uns fortwährend bloß als EinzelkämpferInnen zu verstehen, in den Hintergrund. Mit widerlegten Hypothesen ist bei Geldgebern kein Staat zu machen; allgemein ist bitteschön von einem Fortschritt in der Wissenschaft auszugehen. Skeptisches Hinterfragen der eigenen Position kommt nicht in Frage. Das hat, wenn, dann im Verborgenen zu geschehen, aber auf gar keinen Fall öffentlich, da es eben dem Absägen aller Äste gleichkäme, auf denen man finanziell einigermaßen abgesichert zu sitzen gedenkt.

Im Falle der Kantischen Philosophie findet seitens der Forschung seit mehr als hundertfünfzig Jahren eine – im Vergleich zu sonst in der Philosophie üblichen Graden des Misstrauens gegenüber dem behandelten Text – extraordinäre Überproblematisierung bestimmter Eigenarten seiner Schriften statt; mittels dieser Überproblematisierung wurden und werden seine Texte im Forschungskontext dazu benutzt, das eigene Licht heller leuchten zu lassen; indem man die Texte repariert und indem man in geeigneter Form nachweist, wo Kant „irrte“, zeigt man zugleich die eigene Klugheit auf.

Mir aber scheint: Was skeptische Philosophie kann, nämlich im Sinne einer kultivierten Methode und im Sinne der Haltung einer Distanz und Demut zu sich selbst immer wieder zu fragen, neu zu fragen, rückzufragen und außerdem mit einer gewissen Begeisterung eingestehen zu können, dass man etwas nicht weiß oder noch nicht gut genug weiß: das wird das Aufgabenfeld für die Menschen der kommenden Zeiten sein. Statt im Rennen um die größere mediale Aufmerksamkeit immer mit dem Finger auf andere Menschen zu zeigen, könnte man sich lieber mal der Kultivierung des eigenen Denkens, auch im Sinne des skeptischen Hinterfragens der eigenen Position, widmen. Das ist vermutlich ein stillerer Weg, aber er führt ganz sicher eher zu dem Ziel, gemeinsam wieder zu Menschen zu werden.

 

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