Verlaufszitation ‚Krieg‘
a)
FAKT: ... das Elend des Krieges ... (1.461 und sehr häufig) –
b)
HYPOTHETISCHER ZUGRIFF 1: MAN PRÄSUPPONIERT FÜR DIE BEURTEILUNG DES KRIEGES EINE ANGENOMMENE ABSICHT DER NATUR (Den wichtigsten Hinweis auf den hypothetischen Status der Passage entnehme ich der Verwendung des Automaten-Begriffs; ihn auf ein bürgerliches Gemeinwesen anzuwenden ist innerhalb der kantischen Philosophie absurd.) – „Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen und durch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung alter neue Körper zu bilden [...]; bis endlich einmal theils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, theils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich ein Zustand errichtet wird, der, einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann“. (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), 24 f.)
c)
HYPOTHETISCHER ZUGRIFF 2: MAN BEGRÜNDET DIE NOTWENDIGKEIT KRIEG ZU FÜHREN AUS DEM UNVOLLKOMMENEN ZUSTAND MENSCHLICHER GESELLSCHAFTEN; EIN VERZICHT AUF KRIEGE WIRD ALS ABHÄNGIG VOM GRAD MENSCHLICHER KULTIVIERUNG BZW. DEREN ERST ZUKÜNFTIG ERWARTETER PERFEKTIONIERUNG ERKLÄRT (einer der Hinweise hier: die Ausdrucksweise ‚nach einer vollendeten Cultur‘ und die sich beim Lesen sofort anschließende Frage: wer vollendet denn oder wodurch vollendet sich denn die menschliche Cultur, bitteschön?) – „Man muß gestehen: daß die größten Uebel, welche gesittete Völker drücken, uns vom Kriege und zwar nicht so sehr von dem, der wirklich oder gewesen ist, als von der nie nachlassenden und sogar unaufhörlich vermehrten Zurüstung zum künftigen zugezogen werden. Hiezu werden alle Kräfte des Staats, alle Früchte seiner Cultur, die zu einer noch größeren Cultur gebraucht werden könnten, verwandt; der Freyheit wird an so viel Orten mächtiger Abbruch gethan [...]. Auf der Stufe der Cultur also, worauf das menschliche Geschlecht noch steht, ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen; und nur nach einer [...] vollendeten Cultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich seyn“. (Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786): 121)
d) HYPOTHETISCHER ZUGRIFF 3: MAN IDENTIFIZIERT DEN TYPUS DES KRIEGERS MIT UNERSCHROCKENHEIT, MUT ODER KALTBLÜTIGKEIT; MAN BEURTEILT DEN KRIEG IM KONTEXT ÄSTHETISCHER WERTVORSTELLUNGEN – „Denn was ist das, was selbst dem Wilden ein Gegenstand der größten Bewunderung ist? Ein Mensch, der nicht erschrickt, der sich nicht fürchtet, also der Gefahr nicht weicht, zugleich aber mit völliger Ueberlegung rüstig zu Werke geht. Auch im allergesittetsten Zustande bleibt diese vorzügliche Hochachtung für den Krieger [...]. Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war und sich muthig darunter hat behaupten können“. (Critik der Urtheilskraft (1790): 262 f.)
e)
EINGESCHOBENE KLÄRUNG/ZWISCHENERGEBNIS: Die formale Bedingung, unter der die Kultivierung der Menschengattung erreicht werden kann, „ist diejenige Verfassung im Verhältnisse der Menschen untereinander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freyheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welche bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird; denn nur in ihr kann die größte Entwickelung der Naturanlagen geschehen“ (CU, 432 f. )
f)
HYPOTHETISCHER ZUGRIFF 4 IM ANSCHLUSS AN OBEN (1786): KRIEG DIENT ALS TRIEBFEDER, DIE KULTIVIERUNG VORANZUTREIBEN (einer der Hinweise hier: der absurde Kontrast/Widerspruch zwischen ‚unabsichtlich‘ und der ‚Vorbereitung einer System-Einheit‘) – der Krieg ist unvermeidlich, ist ein „unabsichtlicher“ Versuch der Menschen, „Einheit eines moralisch begründeten Systems“ der Staaten vorzubereiten; er ist trotz aller „Drangsale, womit er das menschliche Geschlecht belegt, [...] eine Triebfeder mehr [...], alle Talente, die zur Cultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln“. (CU, 432 f. )
g)
KATHARSIS/ AUFLÖSUNG 1: die republikanische Verfassung führt zum ewigen Frieden, da, falls „die Beystimmung der Staatsbürger“ erforderlich wäre, um Krieg zu beschließen, „sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten, die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; [...] endlich noch eine [...] Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen“. (Zum ewigen Frieden (1795), 351)
h)
AUFLÖSUNG 2: die Vernunft verdammt „vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang schlechterdings“ und macht „den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht [...], welcher doch ohne einen Vertrag der Völker unter sich nicht gestiftet oder gesichert werden kann: – so muß es einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund [...] nennen kann“ und der „alle Kriege auf immer zu endigen suchte“. (Frieden, 356)
i)
AUFLÖSUNG 3: „Der Krieg [...] scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu seyn und sogar als etwas Edles, wozu der Mensch durch den Ehrtrieb ohne eigennützige Triebfedern beseelt wird, zu gelten: so daß Kriegesmuth (von amerikanischen Wilden sowohl, als den europäischen in den Ritterzeiten) nicht bloß, wenn Krieg ist (wie billig), sondern auch, daß Krieg sey, von unmittelbarem großem Werth zu seyn geurtheilt wird, und er oft, bloß um jenen zu zeigen, angefangen, mithin in dem Kriege an sich selbst eine innere Würde gesetzt wird, sogar daß ihm auch wohl Philosophen, als einer gewissen Veredelung der Menschheit, eine Lobrede halten uneingedenk des Ausspruchs jenes Griechen: ‚Der Krieg ist darin schlimm, daß er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt‘“. (Frieden, 365)
j)
AUFLÖSUNG 4: „Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann, und der früher oder später sich jedes Volks bemächtigt [...]. – Auf die Art garantirt die Natur durch den Mechanism der menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden; freylich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten“. (Frieden, 368)
k)
AUFLÖSUNG 5, ANTWORT AUF ERHABENHEITSVORSTELLUNGEN UND REKAPITULATION: DEUTLICH WERDEN KRIEG UND NATURZUSTAND IDENTIFIZIERT – der Zustand der natürlichen Freyheit (Naturzustand) ist sowohl mit Bezug auf Individuen als auch mit Bezug auf Staaten „ein Zustand des Krieges von jedermann gegen jedermann“ (Religion (1793): 96 f.) – Rechtslehre (1797): er ist ein Zustand „des beständigen Krieges“ (Rechtslehre, 343)
l)
Rechtslehre: „Bey jenem ursprünglichen Rechte zum Kriege freyer Staaten gegen einander im Naturzustande (um etwa einen dem rechtlichen sich annähernden Zustand zu stiften) erhebt sich zuerst die Frage: welches Recht hat der Staat gegen seine eigene Unterthanen sie zum Kriege gegen andere Staaten zu brauchen, ihre Güter, ja ihr Leben dabey aufzuwenden, oder aufs Spiel zu setzen: so daß es nicht von dieser ihrem eigenen Urtheil abhängt, ob sie in den Krieg ziehen wollen oder nicht, sondern der Oberbefehl des Souveräns sie hineinschicken darf?“ (Rechtslehre, 344)
m)
AUCH VÖLKERRECHTLICH KANN MAN VON EINEM NATURZUSTAND SPRECHEN – im „natürlichen Zustande der Staaten ist das Recht zum Kriege (zu Hostilitäten) die erlaubte Art, wodurch ein Staat sein Recht gegen einen anderen Staat verfolgt“. (Rechtslehre, 346 und öfter)
n)
RÄTSEL GELÖST UND ERGEBNIS: „Nun spricht die moralisch-praktische Vernunft in uns ihr unwiderstehliches veto aus: Es soll kein Krieg seyn; weder der, welcher zwischen mir und Dir im Naturzustande, noch zwischen uns als Staaten“ (Rechtslehre, 354).