Aufklärung, individuelle Freiheit und ihre Quelle in vergangenheitsfreiem Denken
Aufklärung, individuelle Freiheit und ihre Quelle in vergangenheitsfreiem Denken
Die Freiheit eines Individuums besteht, so bestimme ich für das Folgende, darin, sich selbst im eigenen, individuellen Lichte anzusehen und zu bejahen. Die Spiegel, die es, bildlich gesprochen, für dieses Anschauen seiner selbst benötigt, sollte es sich selbst auswählen dürfen; die Lichtquelle stellt es selber dar. Daraus ergibt sich, dass diesem Individuum und allen anderen Individuen die Freiheit der Wahl der Spiegel ermöglicht werden muss. Ausgehend von einem solchen Selbst-Sein werden Interaktionen mit anderen Personen und Lebewesen und der Umwelt grundsätzlich unter einem guten Stern stehen – vorausgesetzt, dass jedes Individuum begriffen hat, dass es neben der eigenen Perspektive auch noch die aller anderen gibt.
Im Sinne einer Ermöglichung individueller Freiheit für alle, so bestimme ich zweitens, können grundsätzlich weder das Individuum noch seine Spiegel ausgehend von gruppenbezogenen Interessen oder Gesichtspunkten beurteilt werden, insbesondere dann nicht, wenn solche Gruppen eine unabhängig von ihrer ‚Gruppenlogik‘ in sich und für sich bestehende Individualität entweder nicht zu akzeptieren bereit sind oder sogar danach streben, diese (innerhalb der Gruppe oder auch darüberhinaus) aufzuheben.
Solch individuelle Freiheit wird im Folgenden, drittens, vorwiegend mit Blick auf das eben geschilderte kontemplative Freiheitsmoment thematisiert, und der ‚Freiheits‘-Begriff ist hier zunächst nur ausgehend von jenem ‚Sich-selbst-Anschauen‘ zu verstehen. Fragen zu Interaktionen zwischen Menschen und Tieren und Lebewesen, Fragen zum Handeln, Tun und Lassen, zu gesellschaftlichen und politischen Spielräumen des Handelns und deren Normen usw. werden erstens nur kursorisch erörtert und zweitens nicht ausgehend von Problemen des Zusammenlebens betrachtet, sondern ausschließlich im Fokus einer vergangenheitsfreien Würdigung eines Gegenübers durch ein Individuum gestellt.
Denn im Zentrum der folgenden Überlegungen steht die von Kant stammende Idee, dass es im Zuge einer Selbst-Kultivierung der Menschheit auf der Basis reiner praktischer Vernunft nicht mehr möglich ist, andere Menschen, und ich ergänze: die Tiere und andere Lebewesen, nur als Mittel zur Erreichung von Zwecken anzusehen, sondern dass sie alle grundsätzlich auch als Zwecke an sich selbst (bei Kant zuerst in: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) verstanden und behandelt werden müssen. Was bedeutet das? Das bedeutet, so verstehe ich es, die formale Würdigung jedes anderen Lebewesens (sowie der eigenen Person) ohne jeglichen Anker in der Vergangenheit. Es geht nicht um Identitäten, nicht um Herkunft, nicht um Gruppierungen, sondern ausschließlich um die Würdigung anderen (sowie des eigenen) Lebens, und die darf als ‚formal‘ bezeichnet werden, insofern sie unabhängig von bestimmten äußeren Merkmalen stattfindet und insofern der/die/das Gewürdigte neben allen anderen Erfordernissen immer auch als Zweck an sich selbst je nach Situation real behandelt oder im Denken und Sprechen aufgefasst und ausgesprochen wird.
Tiere und Pflanzen und Säuglinge und ungeborenes Leben und Menschen mit schweren geistigen Behinderungen oder Demenz stehen über diesem Kriterium, und zwar deshalb, weil sie einer Nicht-Würdigung gar nicht fähig sind – gar nicht in der Lage, andere Lebewesen bewusst nur als Mittel zur Erreichung von Zwecken anzusehen. Deshalb, weil ihnen ein Movens zur Unterdrückung und Ausbeutung anderer Lebewesen gar nicht zugeschrieben werden kann, weil sie weder vor dem Hintergrund bestimmter Anker in der Vergangenheit noch vor dem Hintergrund bestimmter Zwecksetzungen für die Zukunft denken und agieren, benötigen sie gar keine Kultivierung auf der Basis reiner praktischer Vernunft. Alle anderen schon.
Nun ist es wohl, so meine ich, ausgeschlossen, dass man ein Verständnis der anderen Lebenden als Zwecke an sich selbst von den Gewohnheiten und Erfahrungen der Nutzung anderer Lebenden als Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke her gewinnen oder ableiten kann. Also: woher weiß ich denn und wie lerne ich denn eine formale Würdigung ohne Anker in der Vergangenheit, wie lerne ich denn, was es bedeutet, andere Lebende als Zwecke an sich selbst zu sehen und zu behandeln? Das weiß ich und lerne ich entweder in einem entsprechenden Umgang mit mir selbst bzw. der Menschen in meinem Umfeld (und dazu mag es in der einen Kultur, in der einen Familie, in dem einen Lebensraum bessere, anderswo dagegen schlechtere Voraussetzungen geben). Das weiß ich und lerne es, wenn ich schlimme und unzumutbare Formen der Unterdrückung und Ausbeutung am eigenen Sein erfahre oder erfahren habe. Und schließlich kann ich es wissen und lernen, indem ich philosophische Texte darüber lese und verinnerliche.
Diejenigen, die sich in der Ausnutzung und Unterdrückung anderen und/oder des eigenen Lebens eingerichtet haben, ohne dass das bei ihnen den Willen hervorruft, dem entkommen zu wollen, oder weil sie resigniert haben, machen sicher den größten Anteil der auf dem Globus lebenden Menschen aus. Gemäß den Ideen der Aufklärung, so wie ich sie verstehe, können diese Menschen aus ihrer Existenzform nur herausfinden, wenn sie selbst es sind, die eine Befreiung wollen und initiieren (und dafür ist es unter Umständen extrem nützlich, eine Schriftkultur zu haben). Man kann Befreiung in dem eigentlichen Sinne, den die Aufklärung im Blick hatte, nicht ausschließlich passiv erfahren, denn dann wäre die befreiende Seite auch nur ein weiteres bevormundendes Relat.
Viertens. Mit dem Sehen und Verstehen des Selbst durch das Selbst, im eigenen Lichte, geht einher, dass grundsätzlich auszuschließen ist, dass sich dieses Individuum als ein Mittel zum Zweck auffassen könnte, mit dem irgendein Ziel erreicht werden soll. Das Individuum ist vielmehr selbst Ziel und Zweck in sich selbst. Menschen, die das als für sich selbst gültig anerkannt haben, können ein solches Selbstbild und Selbstverständnis immer auch bei anderen Menschen erwarten, und es wird ihnen leichtfallen, diese ihrerseits niemals ausschließlich als Mittel zu irgendeinem Zweck zu behandeln.
Wenn man ein solches Bild individueller Freiheit, das verknüpft ist mit dem Bewusstsein des Individuums über die (jedenfalls grundsätzlich mögliche) Freiheit aller anderen Individuen, mit der Menschheitsgeschichte im Hinblick auf Aspekte der Unfreiheit konfrontiert, springt besonders der Umstand ins Auge, dass in Gesellschaften und Kulturen, in denen es der obigen Skizze ähnliche Vorstellungen individueller Freiheit gab, dennoch Menschen als Sklaven betrachtet und gehalten wurden.
Als Sklave oder Sklavin leben zu müssen entspricht der vollständigen Negation aller der genannten Momente individueller Freiheit. Weder ein Selbstverhältnis der geschilderten Art noch die Vorstellung, für niemanden Mittel zum Zweck zu sein, sind möglich. Warum aber hat man dann in christlichen Kulturen die Sklaverei nicht abgeschafft? Warum gibt es auch heute, selbst in christlich geprägten Gesellschaften, Unfreiheit und Unterdrückung Anderer in Formen, die individuelle Freiheit grundsätzlich verunmöglichen?
Das Folgende unterteilt sich in 8 Abschnitte und schließt mit einem Fazit. Die Abschnitte lauten:
1. Die Radikalität individueller Freiheit. 2. Die Idee individueller Freiheit verknüpft sich mit der Forderung, andere Individuen nicht als Mittel, sondern als Zweck an sich selbst aufzufassen. 3. Widerstände vonseiten des ‚Herrschaftsdenkens‘. 4. Formen der Unterdrückung, Ausbeutung und Missachtung anderer Individuen – gestern und heute. 5. Zum Umgang mit Sklaverei im frühen Christentum – auf dem Weg zu Erklärungsversuchen. 6. Individuelle Freiheit im Sinne der Aufklärung kann nur durch vergangenheitsfreies Denken realisiert werden. 7. Missverständnisse über den angeblichen Rassismus und Kulturchauvinismus von Denkern der Aufklärung. 8. Welche Argumentationsform korrespondiert individueller Freiheit? Bemerkungen zu Kants Philosophie.
1. Die Radikalität individueller Freiheit
Die Idee von individueller Freiheit als eingangs skizzierten Grundimpuls im Leben der Einzelnen ermöglicht diesen ein Selbstverständnis, das sich radikal unterscheidet von Selbstbildern, die man aus gruppenbezogenen Leitvorstellungen gewinnt. Individuationsfragen können dort, wo die Idee individueller Freiheit tatsächlich relevant sein darf, unter keinen Bedingungen ausgehend von Gruppenzugehörigkeiten gestellt oder beantwortet werden. Das beginnt bei der Bedeutung des Begriffs ‚Individuum‘. Die Einzelheit eines freien Individuums kann nicht sinnvollerweise ausgehend von seiner oder ihrer körperlichen Einzelheit bestimmt werden. Sicherlich können einzelnen Personen ausgehend von einer Gruppe, der sie angehören, Merkmale zugeschrieben werden. Das sind im Lichte individueller Freiheit aber nebensächliche Beschreibungen.
Denn das Verständnis einzelner Personen muss ja in diesem Rahmen ausgehend von ihrem jeweiligen Selbstverständnis gefasst werden; wenn dieses sich aber in die Idee individueller Freiheit einbettet, dann muss hier jeweils zunächst bei der einzelnen Person nachgefragt werden, um zu einer adäquaten Beschreibung zu gelangen. Die Einzelheit, die hier im Sinne der Freiheit des Individuums gemeint ist, kann auch nicht ausgehend von bestimmten religiösen oder politischen oder sprachlichen oder kulturellen oder irgendwie biologisch gruppenspezifischen Zugehörigkeiten definiert werden, und zwar grundsätzlich nicht.
Nun mag es natürlich Individuen geben, die benötigen für ein zufriedenes Leben eine solche Idee individueller Freiheit nicht, sondern denen genügt es tatsächlich, in einem Gruppengefüge aufzugehen. Sie verstehen sich als Teil ihrer kulturellen, religiösen oder biologischen Gruppe, möchten nicht anders sein als die anderen Menschen in dieser Gruppe, sich keine anderen Spiegel besorgen, in denen sie sich selbst anders sehen könnten usw. Sollte dieses ein nicht durch Unterdrückung und Machtmissbrauch hervorgegangener Zustand Einzelner sein, wäre es sicherlich kein bedenklicher Zustand – vorausgesetzt, die in einem solchen Zustand lebenden Einzelnen haben begriffen, dass es andere Menschen mit anderen Perspektiven gibt, andere Lebensformen und Menschen, die sich mit einer Gruppenzugehörigkeit gleich welcher Art nicht einverstanden erklären und nicht mit ihr glücklich werden (können).
In einer Gruppierung aufgehende Menschen bestimmen sich und andere auf der Grundlage von Ereignissen oder Denkformen aus der Vergangenheit. Dabei können sie nicht in Abrede stellen, dass es innerhalb ihrer existenzdefinierenden Gruppe auch in der Vergangenheit einzelne Menschen gab, denen eine über die Gruppe als solche hinausgehende Bedeutung zukam und zukommt. An bestimmte dieser Menschen wird nämlich auch im Rahmen eines z. B. religiösen oder politischen Gruppendenkens immer wieder erinnert, und zwar dann, wenn sie als Vorbilder dienen (sollen) oder in einem anderen heroischen Sinne gewürdigt werden. Über diese Relationen hinaus fragt es sich, ob zu einer Gruppenloyalität auch eine Loyalität zu einzelnen Menschen in Vergangenheit und Gegenwart gehören kann, die keine HeldInnen sind oder waren, und ob sich die in einer Gruppe aufgehenden Menschen fragen sollten, wieviele ihrer GruppenkollegInnen in Vergangenheit und Gegenwart zutiefst unglücklich mit der (erzwungenen) Zugehörigkeit zur Gruppe waren oder sind.1
In Gruppen, Stämmen, Parteien, Kultusgemeinden, sozialen Verbundformen welcher Art auch immer wird es nicht dazu kommen, dass Menschen andere Menschen als Zwecke an sich selbst sehen, und wenn, dann geschieht das vereinzelt und gewissermaßen zufällig und nicht im Sinne gruppenbezogener Erfordernisse. Des weiteren können über eine Gruppe definierte Existenzformen und das von einer Gruppe aus gedachte Selbstverständnis der Einzelnen jederzeit von Personen innerhalb dieser Gruppe, die sich mittels bestimmter Leitvorstellungen und Herrschaftsansprüche über alle anderen stellen (möchten), zu bestimmten, eigenen Zwecken ausgerichtet und manipuliert werden.
In den Worten Maria Montessoris, und die sind heute gültiger als je: „Niemand kann frei sein, wenn er nicht unabhängig ist, deshalb müssen die ersten tätigen Äußerungen der individuellen Freiheit des Kindes so geleitet werden, daß es durch seine Betätigung zur Selbständigkeit gelange. [...] Daß wir uns den höchsten Sinn des Wortes Unabhängigkeit noch nicht gänzlich zu eigen gemacht haben, rührt von der Tatsache her, daß die soziale Form, in der wir leben, immer noch knechtisch ist.“2
2. Die Idee individueller Freiheit verknüpft sich damit, dass andere Individuen niemals als Mittel, sondern stets als Zweck an sich selbst aufgefasst werden
Erst die Denker der Aufklärung haben ein wirklich durchschlagendes Verständnis von individueller Freiheit und den dazu gehörigen Ausgangsbedingungen geschaffen. Man muss sich vergegenwärtigen, wie eingeschränkt das Leben der Menschen zuvor gewesen ist, unter welchen existenzbedrohenden Bedingungen zum Beispiel auch noch im 18. Jahrhundert das freie Denken und Schreiben stand. Aufklärer entwerfen Utopien; natürlich können sie nicht damit rechnen, dass sich ihre Ideen sofort realisieren lassen. Also schreiben sie in genauer Kenntnis der Gefahren für ihr eigen Leib und Leben teils im Verborgenen, zum Beispiel anonym oder unter Pseudonym, oder sie flechten ihre Überzeugungen in eine komplizierte Argumentation ein, der man auf den ersten Blick nicht ansieht, was eigentlich intendiert ist. Der obrigkeitliche Kontrollapparat inklusive Vorzensur, Zensur und Kerker musste besänftigt, abgelenkt oder hinters Licht geführt werden. Um das alles wirklich in seiner ganzen Dramatik zu begreifen, muss man sich die ganze Bandbreite entsprechender Begebenheiten vor Augen führen, zum Beispiel müsste man sich auch mal die Fälle ansehen, in denen Vorhaben verunglückt sind. Wenn etwa jemand infolge einer Veröffentlichung oder anderen Ereignissen den Rest seines Lebens oder eine längere Zeit im Kerker verbracht hat, ja, dann wird er wohl kaum weiterhin in der Lage gewesen sein, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Heute aber schreiben wir Geschichte oft nur von den Erfolgen her, sehen auf die Autoren, denen ihre Vorhaben, jedenfalls langfristig, gelungen sind, und weichzeichnen das historische Bild damit auf eine Weise, die auch dazu verleitet, historische Ausgangsbedingungen für Entwicklungen und Kämpfe weichzuzeichnen. Davon ausgehend wird dann heutzutage in manchmal bestürzender Naivität gefordert, die jeweiligen Protagonisten hätten ja nur ein wenig mutiger sein müssen oder hartnäckiger oder aufrechter oder was auch immer.
Das Denken der Aufklärung resultiert in Utopien; gelebt haben diese Aufklärer selbst, als Personen, zufällig in Europa und Nordamerika. Für ihr Denken und Arbeiten war relevant, dass sich dort zuvor bestimmte Entwicklungen und Erfindungen abgespielt hatten, und dass sie die Ergebnisse solcher Prozesse nutzen (z. B. den Umstand, dass es Schreibgerät gab oder den Buchdruck) und ebenso Nutznießer von Methoden und Techniken sein konnten (z. B. geschult darin waren, Bücher durchzuarbeiten, Theorien Anderer zu lesen und zu verstehen, und gelernt hatten, sich in Wort und Schrift auszudrücken).
Um heute den nötigen Bildungshintergrund und alles, was ihnen ihr Arbeiten ermöglichte, herauszustellen, ist es dennoch nicht nötig, geographische Herkunftsbestimmungen oder historisch-topologische oder historisch-politische Aspekte der Entwicklung und Ausprägung des Denkens der Aufklärung überzubetonen. Das ist zwar alles zufällig in Europa/Nordamerika geschehen; es hätte aber auch in Indonesien oder Zentralafrika oder wo auch immer genauso geschehen können, wenn dort die Ausgangsbedingungen vergleichbar gewesen wären.
Im Fokus steht hier für diejenigen, die theoretische Grundlagen ausgearbeitet haben, ihr individuelles Denken als solches. Einzig ausgehend von dem Moment aufgeklärter Individualität kann man in meinen Augen hinreichend erklären, was Aufklärung überhaupt dem Anspruch nach war und ist. Nur wenn man das ‚Hell-Werden‘ von Individuen, ausgehend von der eingangs skizzierten Selbstbetrachtung und Selbstreflexion, die ohne Unterdrückung und Einschränkung geschehen darf, in den Fokus rückt, begreift man den Hebel der Aufklärung und wie er eigentlich anzusetzen ist. Zwar liegen, meist in Form von Romanen oder satirischer Prosa, etliche Staatsutopien oder Gesellschaftsutopien aus der Aufklärungszeit vor, und die Zuschreibung ‚Utopie‘ wird in aller Regel vor allem in einem politischen Sinne aufgefasst,3 aber das eigentlich radikal-utopische Element des Denkens der Aufklärung ist doch die Idee vom Mündigwerden der Einzelnen als Zündung für gesellschaftliche Veränderung. Weil die Einzelnen in diesen utopischen Kontexten nicht primär als individuierte Leiber verstanden werden können, sondern weil das Moment der Befreiung eine Auswirkung des Denkens und Wollens ist, ist der Aufklärung eine gewisse Überbetonung der menschlichen Vernunft oder des menschlichen Intellekts zu eigen, das ist aber nicht schlimm und wird vermutlich nur deswegen gern an den Pranger gestellt, weil die jeweiligen Ankläger das Großartige der darin liegenden individual-utopischen Forderungen nivellieren und vielleicht durch eigene politische Ideen übertünchen möchten. Politisches Gruppendenken (aller möglichen Couleur) basiert eben auch häufig darauf, dass die Mitglieder der Gruppe gerade nicht zu selbständigem Denken und Entscheiden angehalten werden, sondern sich der Gruppe unterordnen sollen.
Das individual-utopische Denken der Theoretiker der Aufklärung trägt nicht nur das Moment der ‚bottom-up‘-Veränderung in sich, also einer Veränderung ‚von unten nach oben‘, gesellschaftlich oder kulturell gesehen, sondern, viel wichtiger, das Moment der unbedingten Würdigung der Potentialität jedes einzelnen Menschen. Dieses Moment kommt in seiner Bedeutung und Strahlkraft in den meisten Kontexten gar nicht zum Zuge, sondern wird meines Erachtens durch inadäquate Betrachtungsweisen oft wirkungslos gemacht.
3. Widerstände vonseiten des ‚Herrschaftsdenkens‘
Diejenigen, die – als Theoretiker – mit der radikalen Idee individueller Freiheit zuerst auftraten, waren Denker der Aufklärung. Sie hatten mit massiven Widerständen übelster Art zu rechnen und zu tun. Diese Widerstände torpedierten letztlich die Umsetzung ihrer Ideen in vielerlei Hinsicht, das fängt bei der hemmenden Wirkung der Geheimbünde an, in denen die individuelle Potentialität einer großen Zahl kluger Menschen jener Zeit gebunden war. Weiter kann man den brutal entfesselten Gruppenterror der Französischen Revolution und andere, ähnliche Revolutionsgeschehnisse aufzählen und etwa auf die entstehende Wirkmacht nationaler und nationalistischer Denkformen im 19. Jahrhundert hinweisen.
Das Interesse sowohl seitens der jeweiligen Machthaber über verschiedene Epochen der Menschheitsgeschichte hinweg als auch interessanterweise seitens vieler Gesellschaftstheorien oder politischen Theorien setzt natürlich nicht oder jedenfalls nicht vollumfassend bei individueller Freiheit an. Die Interessen eines ‚Herrschaftsdenkens‘ setzen bei der Frage an, wie man individuelle Freiheit am wirkungsvollsten einschränken kann oder theoretisch so fassen kann, dass ein friedliches und funktionierendes Zusammenleben – immer ausgehend von der gesamten Gruppe gedacht – gewährleistet ist. Individuen werden nicht in ihrer positiven Potentialität, sondern im Gegenteil immer defizitär gedacht. Paradigmatisch heißt es: Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist.4 Feindseligkeit und die angeborene Tendenz zu nicht-altruistischem Verhalten werden als die ersten Charakteristika des Menschenseins aufgeboten; von dort ausgehend werden alle entsprechenden Theoreme, Ideen, Normen formuliert.
Auch im Zusammenhang politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen (gestern und heute) werden deren Adressaten und Adressatinnen in der Regel als Teile einer Masse von Menschen verstanden. Die Menschen in dieser Masse sind nicht über ihr jeweils eigenes Selbstverständnis oder Selbstverhältnis definiert und oft nicht als Zwecke an sich selbst verstanden, sondern werden als gezählte Elemente innerhalb einer Addition menschlicher Leiber aufgefasst. Seitens aufklärungskritischer Philosophie wird vielleicht noch der philosophische Grundsatz von ‚Autonomie‘ anerkannt, aber man sieht sich genötigt, in jedweder Hinsicht seine Grenzen oder Mängel zu akzentuieren.5
Ein ‚Herrschaftsdenken‘ besonderer Art prägt durch alle möglichen Phasen der Weltgeschichte das Denken und Wollen des ‚homo oikonomikos‘ aus, des wirtschaftenden Menschen, dessen Zwecksetzung dadurch gekennzeichnet ist, dass andere Menschen (und Lebewesen) primär im Sinne von Mitteln verstanden werden, durch die man eigene Ziele erreichen kann. Wirtschaft und Handel scheinen prädestiniert zu sein für bestimmte Asymmetrien und für sowohl milde als auch verachtenswert furchtbare Formen der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Menschen (und Lebewesen). In diesem Sektor liegt denn auch meines Erachtens ausschließlich der antreibende Faktor für den Expansions- und Unterwerfungswillen zum Beispiel europäischer Regime sowie der Motor für Kolonialisierung, Versklavung und Ausbeutung jeglicher Art (gestern und heute). Das zeigt sich zum Beispiel deutlich in dem Umstand, dass das zweite und dritte Schlagwort der Französischen Revolution: Gleichheit und Brüderlichkeit im Sinne der Anwendung auf mittellose Menschen im Grunde „nur eine in den Ventôse-Dekreten angekündigte Utopie der jakobinischen Demokratie des Jahres II“ war.6 Eigentumsverhältnisse wurden im Zuge der Französischen Revolution gar nicht grundsätzlich neu aufgestellt; inwiefern das zu anderen Zeiten und in anderen ‚Systemen‘ in irgendeiner Weise gelungen ist, bleibt m. E. fraglich.
4. Zum Umgang mit Sklaverei im frühen Christentum – auf dem Weg zu Erklärungsversuchen
Im 4. nachchristlichen Jahrhundert wurde das Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich. In den ersten Jahrhunderten teils blutig verfolgt und bekämpft, dann geduldet und schließlich zur neben dem Judentum einzigen Religion im Reich erklärt – man könnte durchaus auf die Idee kommen, dass dadurch bestimmte religiöse Vorstellungen Eingang in die Gesellschaft finden oder Veränderungen bewirken konnten. Hinsichtlich der Sklaverei wenigstens war dies jedoch nicht der Fall. In antiken moralphilosophischen Theorien hatte Sklaverei oder ein möglicher Diskurs über Sklaverei kaum eine Rolle gespielt. „Im Vordergrund steht der Mensch, unabhängig von seiner sozialen Stellung, die marginal ist angesichts seiner inneren, moralischen Freiheit. Eine ähnliche Einstellung ist im Christentum anzutreffen“.7
Im Folgenden werden einige Auszüge aus zwei Monographien zusammengestellt, mit denen man sich Erklärungsansätzen nähern kann, warum in frühen christlichen Kulturen die Sklaverei nicht abgeschafft wurde:
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Richard Klein: Die Sklaverei in der Sicht der Bischöfe Ambrosius und Augustinus (1988).
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Georg Kontoulis: Zum Problem der Sklaverei (doyleia) bei den kappadokischen Kirchenvätern und Johannes Chrysostomus (1993).
Die Kirchenväter/Kirchenlehrer der West- und der Ostkirche, von denen die Rede sein wird, sind:
Ambrosius von Mailand (339-397)
Augustinus (354-430)
Johannes Chrysostomos (vor 350-407)
Gregor von Nyssa (um 340-nach 394)
Basilius der Große (330-379), der Bruder des Vorgenannten
Gregor von Nazianz (329-390), befreundet mit den beiden Vorgenannten – die drei Letztgenannten werden auch als kappadokische Kirchenväter bezeichnet.
Das frühe Christentum kannte zur Frage der Sklaverei und zu deren Rechtfertigung durchaus verschiedene Positionen und Überlegungen. Richard Klein schreibt in seiner Untersuchung: „Das Menschenbild in der patristischen Literatur ist geprägt von der imago dei-Vorstellung, deren Wurzeln und Entwicklungslinien sich einmal aus der heidnisch-griechischen Tradition, insbesondere von Platon und der Stoa herleiten, aber auch in der alttestamentlich-jüdischen Überlieferung, bes. bei Philon von Alexandria, und schließlich in den Briefen des Apostels Paulus greifbar werden“; zwischen Körper und Seele und Geist wird unterschieden; Geist und Seele sind dem Körper überlegen; der Geist hat „die niederen Triebe, die partes irrationales animae zu zügeln“.8 Die Gottes-Ebenbildlichkeit wird dem Geist, der Vernuft und ihren Tugenden zugeordnet. Nun wird (gut stoisch) getrennt zwischen einem Weisen und den übrigen Menschen, denen es nicht gelingt, ihre körperliche Natur kraft der Vernunft zu kontrollieren.
Der Weise stellt das höchste menschliche Ideal dar (in der Stoa, für Ambrosius, für andere Kirchenväter). Seine Rationalität befestigt die Idee der Gottesebenbildlichkeit; der triebhafte Mensch hat diese Ebenbildlichkeit nicht. Die ‚tugendbasierte‘ Überlegenheit des Weisen und rational agierenden Menschen rechtfertigt nun auch eine soziale und politische Überlegenheit: der höhere Grad an ratio rechtfertigt das Ausüben von Herrschaft über andere Menschen.
„Das gleiche Prinzip zeigt sich in den Äußerungen des Bischofs [Ambrosius] über Anlagen und Verhaltensweisen von Mann und Frau. Es gibt wohl kaum einen Kirchenvater, bei dem sich derart verletzende Äußerungen über den Charakter der Frau finden wie bei Ambrosius. Ihre allgemeine Inferiorität, wie sie vor allem auch vom späten Judentum vertreten wurde [...], und die an ihr erkennbaren Fehler und Laster werden ohne Umschweife auf die ungenügende Ausstattung mit der sapientia zurückgeführt. Da allein der Mann auf Grund seiner ratio die starke sittliche Festigkeit besitzt, andere zu beherrschen, hat sich ihm die Frau grundsätzlich unterzuordnen“.9
Vor allem bei Aristoteles wird „der Frau eine gleichberechtigte Stellung neben dem Mann [...] rigoros abgesprochen“.10 Ambrosius‘ Schriften und Einstellungen sind in Vielem identisch mit denen Ciceros. Hinzu kommt bei Ambrosius aber seine außerordentliche Betonung der Pflicht zur Nächstenliebe.
„Ein eigener Abschnitt über Sklaven und Sklaverei und die sich daraus ergebenden Probleme findet sich in den Schriften des Ambrosius nicht“.11 Basierend auf z. B. einer Stelle im Korintherbrief (1. Kor. 7, 23) gilt ihm: nur der Weise ist frei; alle Nicht-Weisen sind nicht-frei. Das ist gedacht in diesem Sinne: sie lassen sich von ihren Affekten und Gefühlen leiten, schwanken im Wind, sind töricht und wankelmütig. Der Weise bleibt vollkommen in Christus, fest verwurzelt im Glauben. Deshalb „ist er zum Herrschen befähigt. Der Törichte aber [...] besitzt für eine selbständige Machtausübung wegen des Mangels an sapientia nicht die charakterlichen Voraussetzungen. Er hat sich dem Gesetz der Natur unterzuordnen und in einer mala servitus zu leben“.12 Befestigt wird das mit zwei Beispielen aus dem Alten Testament (Ham und Esau: Gen. 9, 26 und Gen. 27,40). Hier zeigten sich jeweils die Folgen des Mangels an Vernunft und Einsicht.
Der Weise ist also legitimiert als jemand, der einen Herrschaftsanspruch hat; ihm obliegt aber auch eine Fürsorgepflicht gegenüber den Schwächeren. Es lässt sich „feststellen, daß Ambrosius den Stand der Sklaven ohne Einschränkung bejaht und sogar als eine notwendige, natur- und gottgewollte Einrichtung ansieht, wenn sich zeigt, daß sie aufgrund von insipientia zu einem eigenverantwortlichen Leben nicht fähig sind“.13
Es gibt allerdings solche (zu Recht) versklavte Menschen und solche, die zu Unrecht ihrer Freiheit beraubt wurden. Dies sieht auch Ambrosius, hat für solche Fälle aber vor allem spiritualisierende Empfehlungen parat.14 Er bemüht zum Trost für die Sklaven das Beispiel des in die ägyptische Sklaverei verkauften Josephs (Ios. 20). „Nirgends im Neuen Testament gibt es die Forderung nach einer Aufhebung der Sklaverei, weder von Jesus selbst noch von den Aposteln, im Gegenteil, es wird klar gesagt, daß jeder in seinem Stand zu bleiben habe“.15
„Es bedarf keiner weiteren Begründung, daß Ambrosius mit seiner Methode, die Sklaverei einmal als berechtigt hinzunehmen und zum andern sie in stoisch-christlichem Sinn weitestgehend zu relativieren, der gesellschaftlichen Situation seiner Zeit, aber auch dem christlichen Liebesgebot gerecht zu werden glaubt“.16
Auch Augustinus hat „kein eigenes Werk, keinen Brief, keine Predigt hinterlassen, die ausschließlich“ dem Thema der Sklaverei gewidmet wäre.17 Es gibt allerdings in seinem Falle ungleich mehr Literatur über ihn als im Falle Ambrosius‘.
Augustinus kommt insgesamt sehr häufig auf Sklaven und ihre Situation zu sprechen; zum einen kann man den ständigen „Beispielen aus dem Alltagsleben der Familien“ die Bedeutung und die „Rolle der Sklaverei in Hippo und in anderen Städten Nordafrikas“ entnehmen; die „unterschiedliche Vielfalt der Bilder, die häufig im Kontrast zu einer seelsorgerischen Mahnung oder einer theologischen Erklärung angegeben werden, bietet ein realistisches und unverfälschtes Anschauungsmaterial über die Einstellung der Herrenschicht, der auch Augustinus entstammt“.18 „Ausgangs- und Zielpunkt der meisten Bemerkungen über das tägliche Leben der Sklaven ist meist die übertragene, moralisch-theologische Bedeutung. Das unvergleichliche Gewicht des Sklavenbegriffs für Augustinus ergibt sich letztlich aus dem paulinischen Charakter seiner Theologie, in welcher der Mensch immer ein Sklave und darum unfrei ist“.19
Das Neue Testament spiegelt das normale Verständnis der Zeit (in der Region Kleinasien wie auch anderswo) wieder: Sklaven befinden sich in einem nicht eingeschränkten Dienstverhältnis; die Herren haben unbegrenzten Anspruch, die Sklaven sind zur unbedingten Hingabe verpflichtet – ohne dass dabei menschenunwürdige, verachtende Vorstellungen im Spiel waren.
Ein wichtiger Punkt für die frühe Christenheit ist der folgende Gedanke: Christus selbst wird als Knechtsgestalt verstanden. „Christus ist nicht gekommen, um seinen eigenen Willen zu tun, sondern den Willen dessen, der ihn gesandt hat. Wie ein Sklave nicht aus eigenem Antrieb handelt, sondern nach dem Gebot dessen, der ihn sendet, so sind auch die Angehörigen der christlichen Religion verpflichtet, den Weisungen des Gottessohnes zu folgen“.20
Der zugrunde liegende Paulinische Dualismus besteht darin, eine Sklaverei des Bösen in der irdischen Welt, die Freiheit der Gnade für die Kinder Gottes hingegen im Glauben resp. in der jenseitigen Welt zu verorten. Diese Freiheit ist faktisch eine eingeschränkte Freiheit; sie bedeutete „zugleich ein Leben im Dienste eines Höheren. So wie für Paulus jeder Mensch entweder ein Sklave der Sünde und sündhafter Gewalt oder ein Sklave Christi war, kann sich auch Augustinus das Dasein der Menschen niemals in absoluter Freiheit vorstellen. [...] Die gesamte Menschheit ist in jenen heilsgeschichtlich-theologischen Gegensatz zwischen servitus peccati und servitus dei eingespannt [...]. Von jener theologisch begründeten Einteilung des gesamten Menschengeschlechtes in Freie und Geknechtete, wozu er Juden, Häretiker und Heiden in gleicher Weise zählt, führt der Weg zum Verständnis von Augustins Haltung zur Sklavenproblematik in Staat und Gesellschaft seiner Zeit“.21
Von Natur aus ist Augustinus zufolge niemand Sklave eines anderen Menschen, was bedeutet: vor dem Sündenfall waren alle einander gleich, mit Ausnahme des hierarchischen Verhältnisses zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Eltern und Kindern. Danach entwickeln sich menschliche Gesellschaften, in denen Standesunterschiede herrschen. Diese müssen gewahrt bleiben, und eine Gleichheit aller Menschen hat ihre Berechtigung und ihren Ort im Glauben.
Laut Cicero sei den von Rom unterworfenen Völkern ihre Knechtschaft heilsam; dies übernimmt Augustinus (siehe Augustinus, Civ. dei 19, 21). „Aber nicht allein zur Legitimierung der römischen Herrschafts- und Friedensmission greift der Kirchenvater auf die griechische Naturrechtslehre zurück, welche ihm Cicero vermittelte“.22
Augustinus spricht häufig „in abschätziger und geradezu befremdlicher Manier von faulen und feigen, geschwätzigen und stets auf Flucht bedachten Sklaven“; auch er kann sich nicht „von jener Lehre lösen [...], die besagt, daß Sklaven eine geistig und sittlich tieferstehende Gruppe von Menschen bilden und als solche zu behandeln sind“.23
„So bleibt als Folgerung, daß Augustinus sich in der Bewertung der Sklaverei unter den Völkern im allgemeinen, aber besonders im Aufgreifen von historischen Einzelschicksalen durchaus nicht unterscheidet von der Haltung, wie sie bei den Juden und seinen eigenen Landsleuten üblich war. Sowohl in rechtlicher wie in sozialer Sicht stehen ihm Würde und Ansehen der Freien höher als der personale Wert von Sklaven, deren Besitz ihm in keiner Weise fragwürdig wird“.24
„Auch wenn Augustinuns in seinem theologischen und philosophischen Denken die Sklaverei mehrfach und verschiedenartig zu legitimieren sucht, darf nicht übersehen werden, daß er im täglichen Leben stets von Sklaven umgeben war und durch diesen gewohnten Umgang sich in der Regel weder bei ihm noch bei anderen eine Besinnung auf die Grundlagen als nötig erwies. Schon ehe er darüber reflektieren konnte, erlebte er im elterlichen Haus die Dienste der Unfreien als etwas Selbstverständliches. Zwar gehörte sein Vater Patricius nicht dem begüterten Teil der Bürgerschaft in der numidischen Landstadt Thagaste an, aber als Angehöriger des Kurialenstandes besaß er wie die übrigen Familien seines Standes einige Sklaven im Haushalt. In ihrer Obhut wuchs der Knabe Augustinus heran“.25
„Mochte Augustinus als Bewohner des Römischen Reiches die Sklaverei für gesetzlich begründet und gesellschaftlich notwendig ansehen, so erhält für ihn als Bischof der katholischen Kirche das gemeinsame Leben von Herrn und Sklaven durch das göttliche Recht einen neuen Charakter. Alles, was an Rechtssatzungen durch die irdischen Machthaber im Verlaufe der Geschichte gegeben wurde, verbleibt auf einer bürgerlich-politischen Ebene und dient der wohlfunktionierenden Lebensordnung in Familie und Staat“; diese Ordnung soll nun des weiteren im christlichen Sinne vermenschlicht werden „durch die Ausrichtung allen Denkens und Handelns auf die Gebote Gottes [...]. Als gemeinsamen Nenner des göttlichen Rechts definiert Augustinus die Gleichheit aller Menschen in der Liebe Gottes; denn der Schöpfer hat Arme und Reiche aus einem Lehm gemacht, und nach seinem Willen trägt die Erde Arme und Reiche in einem. So bedeutet das göttliche Recht zwar nicht die Aufhebung des Rechtsinstituts der Sklaverei, wohl aber eine neue Dimension des menschlichen Zusammenlebens“.26
Zusammenfassung der Untersuchung Kleins:
Ambrosius und sein Schüler Augustinus „sind in ihren Äußerungen darauf bedacht, das rechtlich-soziale Gefüge sowie die überkommenen Vorstellungen der Gesellschaft über die Sklaverei nicht in Frage zu stellen. Die unfreien Mitglieder des Hauses gelten ihnen als Menschen des untersten Standes“ und sind zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. „Ein aus der geistigen Tradition des Griechentums, aber auch aus jüdischen Wurzeln errichtetes philosophisch-theologisches Gerüst bildet den willkommenen Unterbau für eine Stellungnahme, die sich stets von neuem auf den biblischen Verhaltenscodex beruft“.27
„Vergleicht man diese bei beiden Bischöfen zu beobachtende gemeinsame Grundhaltung mit den Äußerungen der östlichen Theologen, so wird eine erhebliche Diskrepanz sichtbar. Im Gegensatz zum Westen war man dort viel weniger bereit, sich mit einer durch Gesetze und gesellschaftliche Normen vorgegebenen Praxis abzufinden. Erklärte bereits Basilius der Große [...] die Entstehung der Unfreiheit als Folge menschlicher Laster, welche den Adel der Natur zerstörten [...], so meint Johannes Chrysostomus in einer ernsthaften Vorhaltung an die reichen Grundbesitzer, wenn sie schon nicht glaubten, auf ihre zahlreichen Diener verzichten zu können, sollten sie sich mit einem oder höchstens zwei begnügen. Geradezu empörend muß es in den Ohren dieser jede Handarbeit verabscheuenden Kreise geklungen ahben, wenn er ihnen zuruft, daß Gott den Menschen Hände und Füße gegeben habe, damit sie sich selbst helfen könnten. Auch wenn er sich nicht mit dem Gedanken einer vollständigen Beseitigung anfreunden kann, da dies eine völlige Umkehrung de rsozialen Verhältnisse bedeuten würde, laufen die konkreten Vorschläge, die er zur Versorgung der zukünftigen Freigelassenen macht, auf eine mit Zustimmung der Herren erfolgende schrittweise Aufhebung der Sklaverei hinaus. Die rigoroseste und kompromißloseste Stimme, die sich unter den geistigen Vertretern der griechischen Reichshälfte vernehmen läßt, ist die des kleinasiatischen Bischofs Gregor von Nyssa. Jede persönliche Abhängigkeit wird ihm nicht allein zu einem Frevel an der freien und selbständigen Natur des Menschen, sondern auch zu einem Verbrechen gegen Christus selbst, der von Gott zur Rettung der Menschheit ausgesandt wurde“.28
Im Denken der östlichen Kirchenväter wird ein hartes und entwürdigendes Sklavenleben als ein Verstoß gegen göttliches und menschliches Recht angesehen; anzustreben ist langfristig ein Ende aller Unfreiheit.
„Hiervon distanzieren sich die beiden führenden Vertreter der westlichen Kirche in auffälliger Übereinstimmung“.29 Ambrosius orientiert sich an der Stoa. Ein hoher Grad an Rationalität und Triebkontrolle berechtigt in seiner Theorie zu Herrschaft über andere Menschen. Einer Freilassung von Sklaven oder einer Aufhebung von Unfreiheit generell widersetzt sich Ambrosius, „weil er an der naturgesetzlichen Erklärung von Cicero und Panaitios festhält, daß die Menschen in einem auf Arbeitsteilung gegründeten, gegenseitigen Dienst aufeinander angewiesen sind“.30
Augustinus wiederum betont die Knechtsgestalt Christi; Menschen haben nach diesem Vorbild Gott zu dienen und zu gehorchen. In dieser Abhängigkeit müssen sie jedoch als wahrhaft frei gelten. „Mit der paulinischen Grundlegung seiner Theologie hat Augustinus das Fundament erarbeitet, um alle jene, welche sich nicht zur Gemeinschaft der auserwählten Diener Gottes zählten, in der entsprechenden Weise zu charakterisieren. Die Juden hält er für Sklaven des Gesetzes“.31 Alle, „die nicht die neue Bürde der Herrschaft Jesu Christi auf sich genommen haben“, werden „unter dem Stichwort servi peccati zusammengefaßt und des ewigen Lebens für nicht würdig erachtet“. Vor dem Sündenfall war Gleichheit; durch die Sündhaftigkeit der Menschen ist das aufgehoben; Unfreiheit ist die Strafe für die Erbsünde (in alle Zeit).
Aus den mannigfaltigen Schilderungen des Zusammenlebens von Freien und Unfreien in seiner Zeit und Gesellschaft resultiert die Erkenntnis: man kann Augustinus nicht eine Gesinnung zuschreiben, die „Sklaven ausschließlich als materielle Besitztümer einstuft“. Augustinus sorgt sich auch um das Seelenheil der ‚Unfreien‘. „Die Diskrepanz zwischen staatlicher Gesetzgebung und christlichem Menschenbild wird vor allem darin deutlich, wie Herren mit ihren Sklavinnen verkehren. Bestehen sie auf ihrem Gewohnheitsrecht und behandeln sie diese lediglich als Objekt ihrer Begehrlichkeit, so vergehen sie sich gegen das christliche Sittengesetz, das jedem Menschen, ob frei oder unfrei, eine unantastbare Würde zuerkennt. Diesem rechtlich keineswegs strafbaren Verhalten, welches von Augustinus wiederholt mit ernsten Worten gegeißelt wird, stehen der christliche Grundsatz der Gottesebenbildlichkeit, welche alle Menschen einschließt, und das von Paulus geforderte Brüderlichkeitsgebot entgegen“.32
Augustinus lässt sich keinesfalls als „Wegbereiter einer langsamen Auflösung der Sklaverei“ hochstilisieren. Als ein von Gott bestellter Hüter der Seelen fühlt er sich berufen, dem Gebot der christlichen Liebe innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung Geltung zu verschaffen“; ihn bewegten weniger Standesinteressen, sondern primär „das ewige Heil der ihm anvertrauten Herde“.33
Auch aus der Untersuchung Georg Kontoulis‘ sollen hier einige Überlegungen angeführt werden; auch sie geben möglicherweise Aufschlüsse und Erklärungsansätze zu weiterführendem Nachdenken.
„Im allgemeinen hat der Humanismus die Sklaverei als integralen Bestandteil der Gesellschaft nicht bekämpft. Vielmehr übernahmen die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts aus der Antike die philosophische Begründung der Sklaverei und vom römischen Recht (ius gentium: Familien- und Völkerrecht) die praktische Anerkennung der Sklaverei als Institution“.34
David Hume „betrachtete die Sklaverei nicht nur als die grausamste Ausprägung bürgerlicher Unterwerfung, sondern sah in ihr auch einen nachteiligen Faktor für das Wohlergehen und die Bevölkerungsdichte der Menschheit (Essays Moral, Political and Literary I; Of the populousness of Ancient Nations).
Auch Wilhelm von Humboldt (1767-1835) befaßte sich mit der Sklavenfrage im Zeitalter des Neuhumanismus und schloß sich dessen allgemeinen Ansichten und Grundpositionen zur Antike an. Er betrachtete die Sklaverei als einen Zustand, der die Bildung des klassischen Menschen gefördert habe. Durch das Bestehen der Sklaverei wurde die Entfaltung des alt-hellenischen Ideals und die Verwirklichung der hohen Werte der altgriechischen Kultur ermöglicht. Die positive Einstellung der Neuhumanisten zur Sklaverei erklärt sich aus ihrer Sympathie für die aristokratische Gesellschaftsform, in der Sklaven und ‚unkultivierte Schichten‘ den untersten Platz einnehmen und zur Entfaltung der antiken Kulturideale in der gesellschaftlichen Führerschicht ökonomisch und politisch beitragen“.35
Kontoulis gibt einen Überblick über Literatur, in der vertreten wird, das Christentum habe die Sklaverei überwunden resp. überwinden müssen.36
Sodann erläutert er die Anthropologie des NT: Ein Sklave wird nicht mehr als Sache, als Werkzeug gesehen, sondern als Mitmensch.37 „Aber diese Gleichstellung aller gab keinen Anlaß zu einer sozialen Umwälzung in der Frühzeit des Christentums. Die historischen Vorgänge belegen, daß die Lehre des Christentums den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Zeit und auch der Sklavenfrage als der eigentlichen Frage des Altertums machtlos gegenüberstand und es in der Praxis weder die soziale Struktur und Ordnung noch die anthropologischen Vorstellungen seiner Umwelt rapid ändern konnte. Die Parusieerwartung ließ ohnehin eine radikale Änderung der obwaltenden Verhältnisse weder sinnvoll noch praktisch durchführbar erscheinen unter dem Gesichtspunkt des Irrelevanten dieses vergänglichen, irdischen Lebens und seiner Erscheinungen“.38
„Beim Überblick der kurz skizzierten und interpretierten Belege aus der frühchristlichen Literatur, der Apologeten und der älteren Kirchenväter, wird deutlich, daß es kein unmißverständliches Urteil gegen die Einrichtung der Sklaverei gibt. Im Gegenteil, sie wird toleriert, als selbstverständlich hingenommen und nicht gegen sie aufgerufen. Bei Unstimmigkeiten zwischen den Parteien wird eine humane Lösung angestrebt. Die Rechte der Herren werden nicht in Zweifel gezogen. Der Sklave wird allerdings als Person anerkannt, dessen christliche Würde nicht angetastet werden darf. So wird dem Sklaven sogar empfohlen, bei Befehlen, die sich gegen das göttliche Gebot richten, den Gehorsam zu verweigern. Die Errettung seiner Seele hat hier Priorität; göttliches Gebot steht über menschlichen Befehlen. Sonst wird dem Sklaven ganz im Sinne des Neuen Testaments eine strenge Unterordnung unter seinen Herrn auferlegt. Nur so kann der soziale Friede gewahrt werden, dessen Erhalt Aufgabe des Staates ist. Die Einrichtung der Sklaverei gehört zum Ordnungsgefüge des Staates, wird sie doch als Folge der menschlichen Sünde bewertet. Damit erfährt die Sklaverei eine theologisch motivierte Rechtfertigung und Begründung und läßt sich so in der christlichen Gesellschaft auch ungehindert durchsetzen. Immerhin läßt die Kirche die Sklaven nicht im Stich, sondern nimmt sich in ihrer begrenzten kirchlichen Fürsorge auch der Sklaven an. Die Kirchenväter und auch Augustin sind durchgängig bestrebt, Spannungen, Konflikte und grausames, unmenschliches und unchristliches Verhalten gegenüber den Sklaven abzubauen, für ein friedliches Miteinander zu sorgen und womöglich auch ein menschliches Verhältnis zwischen Herren und Sklaven herzustellen“.39
Anders als bei Aristoteles (der Sklave ist vergleichbar einem Tier ein beseeltes Werkzeug, eine Sache – Politeia A 4) wird der Sklave als Mensch und Geschöpf Gottes, als Glied der christlichen Gemeinde und als der Tugend fähige Person gesehen. Auf Freilassung wird aber nicht gedrängt, es wird keine Umwälzung der sozialen Situation angestrebt. Die Kirchenväter in Ost wie in West arrangieren sich mit den politischen Zuständen. Das Christentum bewirkt keine sozialen Revolutionen und ist grundsätzlich auf Jenseitigkeit ausgerichtet.
Basilius der Große sieht zuerst den Menschen als Geschöpf Gottes. Der Mensch als Ebenbild Gottes (Gen. 1, 26) ist ein Mikrokosmos. Es zählen Nächstenliebe und gute Werke.
„Für Basilius gehört die Sklaverei zum Erscheinungsbild dieser irdischen, vergänglichen Welt, das nach der Zerstörung des natürlichen und seligen Urzustandes herbeigeführt wurde. [...] Die Existenz der Sklaverei war ein integrales Element, eine tief in Staat und Gesellschaft eingewurzelte sozioökonomische Einrichtung dieser ganzen Epoche. [...] Er und andere Kirchenväter haben nicht nur erbitterte Kämpfe gegen Unsittlichkeit, Unmoral, heidnische Bräuche und Überbleibsel aus der Antike geführt, sondern vor allem die vielerorts herrschende Ungerechtigkeit und vielerlei wirtschaftliche Ausbeutung der verarmten Unterschichten angeprangert und scharf kritisiert. Gewiß haben sie dadurch die Abschaffung der Sklaverei nicht herbeigeführt“.40
„Als Haupttendenz in Basilius‘ Schrifttum stellt sich der Kampf gegen die Sklaverei der Sünde dar, nicht gegen die bürgerliche Einrichtung der Sklaverei“; Basilius kritisiert „die repressiven Strukturen in Staat, Gesellschaft und Kirche. Er drängt darauf, sie im christlichen Geist zu verwandeln. Aus den Schriften des Basilius wird deutlich, daß die überwiegende Mehrheit des herrschenden Establishments im 4. Jahrhundert an der Sklaverei und deren Fortbestand interessiert ist. Die Sklaven sind als Arbeitskräfte unerläßlich. Ihr Status wird weder von der Gesellschaft noch von der Kirche angefochten. Es sind keine Aktionen gegen die Sklaverei aus diesem Zeitalter bekannt. Auch lassen sich keine bahnbrechenden Verbesserungen im Status des Sklaven feststellen“; er ist juristisch eine nicht-freie Person.41
In den Appellen der Kirchenväter und ihrem Einsatz für Sklaven kann man kein „Programm zur Abschaffung der Sklaverei“ sehen; solche Interpretation entspreche „nicht der Historizität und Wahrheit der Tatsachen“.42
Gregor von Nyssa, der jüngere Bruder des Basilius, „gehört zum großen Dreigestirn der Kappadokier, die die Kirche nachhaltig prägten und in den dogmatischen, theologisch-christologischen Streitigkeiten des 4. Jahrhunderts eine hervorragende Rolle einnahmen“.43
„Gregor von Nyssa zeigt eine ausgesprochene Begabung für die philosophische Spekulation. Seine Ansichten verraten platonischen Einfluß´, besonders seine apologetischen Schriften gegen Eunomius. Sonst läßt sich das Einwirken von Origines beobachten. Seine Werke sind stark philosophisch geprägt, so daß durch ihn viel philosophisches Gedankengut ins Christentum eingedrungen ist“.44
„Nicht unerheblich wirkte er beim 2. Ökumenischen Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 mit und spielte dabei keine zu unterschätzende Rolle“; ihn „beschäftigten vornehmlich die Theologie, die Hermeneutik und Mystik, wobei das Verhältnis von Gott und Mensch sowie die Menschwerdung des Logos Hauptpunkte seiner Untersuchungen sind. Trotzdem übersah er nicht die Alltagsprobleme und sozialen Fragen seiner Umwelt. Das beweisen seine Sittenlehren zugunsten der Armen sowie seine Schriften gegen die Wucherer. [...] Der Mensch als hervorragendes Geschöpf nimmt in seinem Schrifttum eine besondere Stellung ein. Auch das Sklaventhema wird gelegentlich angeschnitten bzw. ausführlich dargelegt, wenn es um die geistige Knechtschaft geht“.45
Unter Gottes Geschöpfen sei der Mensch das höchste, hervorragendste, die Krone der Schöpfung, von Gott gewollter Herrscher über die Natur und den Rest der Schöpfung, und darin wie in allem geleitet von Vernunft und freiem Willen. „Der Mensch ist demnach ein Abbild der wahren Gottheit und hat zur Pflicht, in freier Entscheidung Gott ähnlich zu werden“.46 „Gregor von Nyssa stellt die Beziehungen des Menschen zur Welt nicht als krasse Antithese dar, wie es bei manchen Kirchenvätern der Fall ist, sondern als Harmonie. Der Mensch [...] ist Herr der Welt. Seine dominierende Macht besteht darin, daß beide, Mensch und Welt, gemeinsam aus dem Zustand des Fortseufzens und Fortleidens [...] heraustreten können. Denn mit dem Menschen wird auch die Welt erlöst, und er nicht ohne sie“.47
Sich selbst erlösen bedeutet: dem Sklavenzustand (Sklave seiner Affekte und Begierden zu sein) durch Wieder-Erlangen der ursprünglichen Gott-Gleichheit entkommen.
In der christlichen Gemeinde werden sowohl Sklaven als auch Herren als „Brüder“ bezeichnet; hier „sind die überkommenen Schranken theoretisch aufgehoben. Dies gilt aber nicht für den Bereich des fortbestehenden und unantastbar bleibenden bürgerlichen Rechts“.48 Bei Gregor von Nyssa finden sich allerdings häufige Aufforderungen, in Schriften, Predigten, die Sklaven christlich und menschenwürdig zu behandeln. Dennoch: „Eine gesetzliche Gleichstellung ist nicht in Sicht, obwohl der Kirchenvater sie theoretisch propagiert und für möglich hält. So sehr ein derartiges Verhalten in einer immer noch heidnisch geprägten Gesellschaft praktisch aus sozialen und aus psychologischen Gründen unmöglich scheint, so stellt es sich doch für das humane und christliche Selbstbewußtsein Gregors von Nyssa als durchführbar dar“.49
„Zur Sklavenfrage findet sich ein charakteristischer Satz im Kommentar zum alttestamentlichen Predigerbuch (2,7), wo sich Gregor von Nyssa in eindeutiger Sprache im Blick auf die praktizierte Sklaverei gegen die Menschenhändler wendet“.50 „Die Sklaverei stellt sich nach der Äußerung Gregors von Nyssa als nicht von Gott geschaffen, als nicht naturgegeben und –bedingt, dar. Darüber hinaus zeigt die Stelle eine gewisse Abneigung des Kirchenvaters gegenüber dem Brauch, ein vernünftiges Wesen, mit dem lógos vom Schöpfer ausgestattet, wie ein Stück Vieh, wie gewöhnliche Ware, zum Sklaven zu machen. Der Mensch als hervorragendes Geschöpf Gottes darf nicht zum Sklaven herabgesetzt werden, hebt er wiederholt in seinen exegetischen Kommentaren und Predigten hervor. Denn durch die Versklavung eines Menschen wird dieser zu einer Sache und somit der unvernünftigen Natur gleichgesetzt.
Allerdings kommt Gregor nicht so weit, besondere Konsequenzen in praktischer Hinsicht aus dieser theoretischen Einsicht zu ziehen. Das ist überwiegend damit zu erklären, daß uns bei Gregor von Nyssa wie häufig in der pratristischen Literatur die spirituell aufgefaßte Sklaverei begegnet. Doch übersieht Gregor die in seiner Epoche praktizierte, gesetzlich verankerte Sklaverei und ihre vielfältige Problematik nicht. Er hält sie nicht für gerecht und betrachtet sie als unmenschlich“.51
„Der Kommentar zu Pred. 2,7 gibt uns auch Aufschluß über die Kauf- und Verkaufsgepflogenheiten. Der Sklavenhandel war ein die ganze antike Welt umfassendes Phänomen. Es läßt sich jedenfalls nicht leugnen, daß auch das christlich geprägte byzantinische Zeitalter die Sklaverei nicht nur duldete, sondern sogar von seiner Struktur her erforderlich machte. Konstantin der Große hat zwar durch Gesetz Heiden und Juden untersagt, christliche Sklaven zu halten oder mit ihnen Handel zu treiben (Erlass: Codex Just. XVI 3). Die Aufhebung der Institution der Sklaverei verkündete er damit aber nicht. Der Sklavenhandel, der jener Zeit im allgemeinen als eine Selbstverständlichkeit erschien, wird von Gregor scharf verurteilt“.52 „Weit mehr als sein Bruder Basilius verurteilt Gregor den Sklavenhandel und den daraus erzielten Geldgewinn, weil dieser Handel das edelste Geschöpf und Abbild Gottes zum Objekt und Opfer hat. Der Mensch aber, ob Herr oder Sklave, ist Herr auf Erden. Der Sklave stellt sich in Gregors Schriften nicht als Mensch zweiter Klasse dar, nicht als unvernünftig, als in Unkenntnis gehüllt, wie Plato einst formulierte (Politikos 309a), sonder er ist Geschöpf Gottes und damit Herr auf Erden. Es besteht kein Unterschied zwischen Herr und Sklave, theoretisch wird das bestehende Gesetz der Sklaverei aufgehoben. Doch ruft Gregor von Nyssa nicht zur Beseitigung der Sklaverei auf“.53
„Gregor von Nyssa [...] sieht die menschliche Problematik unter der Perspektive der Theologie, während das soziologische Gefüge seiner Zeit keine ausgeprägte Beachtung findet“; Sklaverei bedeutet für ihn weniger „eine raum-zeitliche, soziologische Institution, sondern eine ethische, geistige Bindung. Der Christ ist [...] als Christ auch dann frei, selbst wenn er in sozialer Hinsicht unter dem Joch der Sklaverei steht“.54 In gewisser Weise geht mit den Schriften Gregor von Nyssas „der Gedanke der Unstatthaftigkeit der Sklaverei“, zuvor schon bei den Sophisten und den Stoikern vertreten, in die christliche Literatur ein.55 Dennoch dürfe man seine Schriften nicht im Sinne eines Aufrufs zur Revolution oder einer Anti-Sklaven-Bewegung überinterpretieren.56
Des Weiteren erörtert Kontoulis ein konkretes Problem im Umfeld Gregors von Nazianz, bei dem es „um einen ansehnlichen und gebildeten Sklaven“ geht, den eine Dame der Oberschicht „mit der Stelle eines Verwalters in ihrem Haus betraut hatte. Der ältere Gregor von Nazianz und sein Sohn, der berühmte Theologe, hatten ihn ohne das Wissen und die rechtliche Einwilligung seiner Herrin und daher gegen die geltende Gesetzgebung zum Priester geweiht, was seine vorhergehende Freilassung vorausgesetzt hätte“. Die Dame „beschwerte sich offiziell und verlangte eine Klarstellung. [...] Gregor von Nazianz erkennt zwar ihre Rechte auf den Sklaven an, versucht aber, sie durch Zureden und mit Argumenten aus der heiligen Schrift umzustimmen und so ihren Zorn zu beschwichtigen. Sie sollte ihr Christsein in der Tat beweisen und gewisse Rechte und Handlungen der Kirche und ihrer Diener nicht bekämpfen“.57 „Die Affäre ist kompliziert [...]. Als Grundgedanke ragt im Brief [Gregors] die Gleichheit aller vor Gott heraus, Herren und Sklaven eingeschlossen; vor ihm spielen weltliche Würde und soziales Prestige sowie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Ränge keine Rolle. Immerhin weiß Gregor die gespannte Situation zu meistern und die vornehme Dame mit seinen vermittelnden Vorschlägen zu beschwichtigen und sie zu überzeugen, die Behandlung des Anliegens der Kirche zu überlassen“.58 Sein Wirken ist aber keineswegs als Appell zu verstehen, „die Gesellschaft umzustürzen. Der Kirchenvater ist bestrebt, in der bestehenden Gesellschaftsstruktur menschliche Verhältnisse zu schaffen, ein möglichst friedliches Miteinander und insbesondere eine geistige Metamorphose in ihr zu bewirken im Geiste Christi. Man soll, unterstreicht er, zuerst an Gott und desssen Nomos denken, nicht an weltliche Maßstäbe“.59
Schließlich erörtert Kontoulis Johannes Chrysostomus, der prominent die Gleichheit aller Menschen (als Kinder Gottes) vertrat, der insbesondere luxuriöse Lebensweisen anprangerte, stattdessen den selbstlosen Dienst am Menschen forderte und die Fürsorgepflicht für die Mitmenschen betonte. Der Sklave ist in seinen Schriften „als Ebenbild Gottes Kind seines Schöpfers und allen Menschen gleich. Vom Grundsatz des christlichen Gebots der Nächstenliebe geleitet, beinhaltet dies allerdings in gewisser Weise die ersten Keime einer fundamentalen Veränderung, wenngleich sie vorerst theoretisch bleibt“.60 Auch Johannes Chrysostomus legt kein politisches Programm zur Abschaffung der Sklaverei vor; dennoch mahnt er fortwährend „zum Umdenken auch in ganz praktischem Sinne“.
„Die bürgerliche Institution der Sklaverei stellt Chrysostomus nicht in Frage, auch problematisiert er die Sklavenfrage nicht. Er greift zwar mehr als die anderen Kirchenväter seiner Zeit das Thema Sklaverei auf, doch hat er wie sie keinen Traktat über dieses Thema verfaßt. Wenn er auf Sklaven und Herrn zu sprechen kommt, so geschieht das im Blick auf ein christliches Verhalten. Sowohl Herren als auch Sklaven werden ermahnt, ihre gegenseitigen Verpflichtungen einzuhalten und Spannungen und Härten zu vermeiden. Eine Zurückweisung des Sklavenstandes wird nirgends zum Ausdruck gebracht. Erstaunlich oft wird die Zweckmäßigkeit und Unerläßlichkeit der Sklaverei als [...] [Fessel] zur Tugend herausgestellt“.61
Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass sich zwar mit Konstantin und der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion ab dem frühen 4. Jahrhundert eine historische Wende vollzog, dass fortan Kirche und weltliche Macht zusammenwirkten, dass aber gleichwohl überall, auch in Byzanz, das römische Recht und Rechtsverständnis bestimmend blieb und dass ein durchgreifender, umwälzender Effekt christlichen Denkens auf soziale Zustände nicht stattgefunden hat.
„Von einer Politik der Gleichbehandlung aller Menschen, ungeachtet ihres sozialen Standes, die man wohl predigte und als christliche Tugend einschärfte, war man noch weit entfernt, zumal sie eher moralisch-religiös motiviert und als eschatologisches Gut verstanden wurde“.62 Es gab keine Forderung, Sklaverei abzuschaffen. „Die Kirchenväter verstanden den Menschen als Gebilde aus Körper und Seele und legten vornehmlich dem spirituellen Teil Gewicht bei, wobei die Sklaverei als soziale Erscheinung im Hintergrund bleibt“.63 „Aus dem behandelten Schrifttum geht eindeutig hervor, daß die Sklaverei ein weit verbreitetes Phänomen der antiken Welt war und auch in der christlichen Zeit [...] ungestört weiter bestanden hat. Es läßt sich für die frühe Kirche kein Dokument nachweisen, in dem die Sklaverei offiziell abgelehnt wird. Auch Hinweise darauf, daß diese Thematik öffentlich diskutiert wurde, fehlen“.64
5. Formen der Unterdrückung, Ausbeutung und Missachtung anderer Individuen – gestern und heute
Unterdrückung, Ausbeutung und Missachtung von Menschen hat sich vermutlich immer schon im Rahmen menschlichen Zusammenlebens etablieren können, und wo das der Fall war, kann als einer der hauptsächlichen Motoren die Idee der angeblichen Stabilität eines gruppengetragenen Zusammenlebens verstanden werden. Die extremste Form von Unterdrückung, Ausbeutung und Missachtung liegt in den diversen Formen von Sklaverei vor. Obwohl die antike Sklaverei das Christentum und obwohl die Kolonialsklaverei die Gedanken der Aufklärung vorgesetzt bekamen, konnte keine der beiden Denkformen und Denkweisen an der Realität der Unterdrückung und Ausbeutung grundlegend etwas ändern. Die Unterdrückung anderer Menschen ist selbst ein ungeheuer mächtiger Garant für das Etablieren und Bestehen asymmetrischer und ausbeuterischer Strukturen; die Gier und die Brutalität der ausbeutenden und unterdrückenden Seite gehen eine wirkungsvolle Koalition ein mit der Angst und Gelähmtheit der ausgebeuteten und unterdrückten Seite. Soll darin die Stabilität liegen, die Menschen sich für ihr Gruppengefüge wünschen?
„Ob in Mesopotamien, Ägypten, Griechenland, Rom, Nordafrika oder südlich der Sahara – die Errungenschaften antiker Kulturen sind nicht ohne Sklaven zu erklären.“65 Im Einzelnen gab es große Unterschiede, die hier nicht ausgebreitet werden können (siehe die Literaturliste am Schluss des Textes, die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit macht). In Ägypten etwa versklavte man vorwiegend fremde Gefangene, die infolge von Kriegshandlungen in das Land geschafft wurden. Als man für die ägyptischen Großbauwerke eine im Vergleich zu sonstigen Wirtschaftsusancen unverhältnismäßig große Zahl an Arbeitern benötigte, begann Ägypten mit der industriellen Einfuhr von afrikanischen Sklaven.
Tiziana J. Chiusi erläutert: „Die Sklaverei ist ein der Antike sehr vertrautes Phänomen. Für uns ist es selbstverständlich, daß der Mensch mit der Geburt ein Rechtssubjekt wird, d. h. daß er Träger von Rechten und Pflichten sein kann. In Rom wie auch sonst in der Antike war dies nicht so: Geboren zu werden bedeutete nicht automatisch, ein Rechtssubjekt zu sein. Gegen die aristotelische Lehre, nach der die Sklaverei ein Produkt der Natur sei,66 vertreten die römischen Juristen allerdings die Auffassung, daß sie ein historisches Produkt sei, die Konsequenz bestimmter Umstände, da von Natur aus alle Menschen frei geboren werden. So schreibt Ulpian, ein Jurist des dritten Jahrhunderts n. Chr., daß ‚iure naturali omnes liberi nascerentur‘ (D. 1.1.4 Ulp. 1 inst), daß nach dem Naturrecht alle frei geboren werden; [...]. Da sie aber allen Völkern bekannt sei, wird sie von den römischen Juristen als ein Institut des ius gentium, des Rechts der Völker definiert; und weil die Sklaverei in die Rechtsordnung eingedrungen sei, wurde danach die Wohltat der Freilassung erfunden (D. 1.1.4 Ulp. 1 inst).“67
Sklaverei nach römischer Auffassung sei, so Chiusi, „nicht rassistisch geprägt“,68 sondern war eng gekoppelt an römische Eigentumslehre und die Rechtsvorstellungen, die sich rund um die Figur des patri familias ausprägten. Vermögensfähig sind im römischen Recht nur diejenigen, „die keinen Vater als Familienoberhaupt über sich haben (sui iuris) und daher selbst patres familias sind“,69 wobei es nicht von Bedeutung ist, ob man tatsächlich Kinder hatte. Die antike Gesellschaft war eben alles andere als einem Gleichheitsgrundsatz verpflichtet.
Christliches Denken hat es hier nicht vermocht, einen sozialen Wandel herbeizuführen (siehe Kapitel 4); sicherlich auch deshalb, weil mit Blick auf wirtschaftliche Effizienz niemand Sklavenarbeit aufgeben mochte. Im 17. und 18. Jahrhundert dann eigneten sich ausgehend von europäischem Boden verschiedene Regime bedeutende außereuropäische Gebiete an; es wurden große Kolonialreiche gegründet, zunächst von Spanien und Portugal in Südamerika, von England auf den Antillen, in Nordamerika und Indien, von Frankreich auf den Antillen, in Westafrika, Kanada und Indien. Es etablierte sich ein interkontinentaler Handel mächtiger Handelsgesellschaften vor allem der Portugiesen, Engländer und Niederländer. England und Frankreich gelang dann im Laufe des 19. Jahrhunderts die Errichtung sogenannter zweiter Kolonialreiche. Auch Deutschland, Belgien und Italien traten im Laufe des 19. Jahrhunderts an, um sich an der Ausbeutung von Gebieten, nun insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent, zu beteiligen.
Der Ursprung des transatlantischen Menschenhandels liegt letztlich im araboislamischen Sklavenhandel. Nachdem Ägypten islamisiert wurde, begann ab dem 7. Jahrhundert n. Chr. die systematische Versklavung der umliegenden Völker.70 Indien war 190 Jahre lang britische Kolonie. „Vermittels eines raffinierten rücksichtslosen Systems ineinandergreifender kolonialer Maßnahmen hielten die englischen Kolonialherren die Entwicklung der Produktivkräfte Indiens auf, trieben Raubbau an den Naturreichtümern, entwickelten die Wirtschaft einseitig und kümmerlich, beuteten die Bevölkerung des Landes brutal aus und preßten sie insgesamt in das koloniale Joch. Die schrankenlose und brutale Ausbeutung der Bevölkerung führte zur Bildung, Vermehrung und Konzentration eines enormen Reichtums in den Händen der englischen Kolonialherren.“71 Dasselbe gilt für die Langlebigkeit und Stabilität des Ausbeutertums in anderen Regionen. Das 1685 in Frankreich von König Louis XIV. erlassene Dekret „Code Noir“72 etwa war bis 1848 in Kraft.
Erste Ansätze „der Herausbildung eines internationalen Menschenrechtsschutzes in Gestalt eines Verbotes des Sklavenhandels“ wurden nur teilweise aus humanitären Motiven angestrengt; sie wurden befördert durch „den wirtschaftlichen Aufschwung Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jhs.“ in Europa, als sich die Lohnarbeit „in der sich etablierenden Geld- und Marktwirtschaft“ durchsetzte und aufgrund ihrer Rentabilität die Sklavenarbeit zu verdrängen begann.73 1787 gründete sich in London die Gesellschaft zur Abschaffung des Sklavenhandels. Ausgehend von der Initiative Einzelner also entfaltete die Idee Wirksamkeit, dass Sklaverei nicht mehr hinnehmbar sei.74 Politische Legislative und Exekutive reagierten darauf, auch in Form menschenrechtlicher und völkerrechtlicher Bestimmungen und Konventionen.
Alle diese Zusammenhänge scheinen mir aber in der Art und Weise, wie sie dargestellt werden, weiterhin mit einem Ungleichgewicht belastet zu sein. Zum Beispiel hat es ja im 19. und 20. Jahrhundert durchaus Sklavenaufstände gegeben, und die waren teilweise nicht so aussichtslos, wie man denken könnte, und sie endeten nicht alle resignativ, aber im Ganzen erzählt man kaum davon. Als die wie auch immer jeweils thematisierte agierende Seite werden nach wie vor ‚die Europäer‘ dargestellt. Diese und andere Asymmetrien gilt es loszuwerden. Dazu muss allerdings in den Blick genommen werden, wie großartig Menschen immer schon das Abwerten und Diskriminieren Anderer fanden. Selbst wenn es stimmt, dass z. B. die Formen der Sklaverei in der römischen Antike nicht rassistisch geprägt waren, und selbst wenn man zugesteht, dass mit dem Christentum ein Gleichheitsgedanke Einzug hielt, so war zum Beispiel die Antike und die christliche Welt, ebenso die islamisch geprägte Welt, doch von jeher durchzogen von einem tiefverwurzelten Klassendenken und einer tiefen Begeisterung am Diskriminieren.
Reinhart Koselleck erörtert die historisch-politische Semantik „asymmetrischer Gegenbegriffe“.75 „Selbst- und Fremdbezeichnungen gehörten zum täglichen Umgang der Menschen. [...] Dabei kann im Gebrauch der Ausdrücke Übereinstimmung herrschen, oder jeder verwendet für sein Gegenüber einen anderen Ausdruck, als dieser für sich selbst benutzt. [...] Im einen Fall ist die gegenseitige Anerkennung sprachlich impliziert, im anderen fließt eine abschätzige Bedeutung in die Bezeichnungen ein, so daß die Gegenseite sich wohl angesprochen, aber nicht anerkannt finden kann. [...] Die Wirksamkeit gegenseitiger Zuordnungen steigert sich geschichtlich, sobald sie auf Gruppen bezogen werden.“76 Neben neutralen, allgemein anwendbaren Bezeichnungen haben sich Gruppen immer wieder exklusive Etiketten verpasst; aus solchen Praxen entstehen ‚Gegenbegriffe‘, „die den Ausgegrenzten diskriminieren“.77 Asymmetrische Gegenbegriffe besonderer historischer und politischer Tragweite stellen etwa die Begriffspaare ‚Hellene-Barbar‘, ‚Christ-Heide‘ sowie ‚Übermensch-Untermensch‘ dar. Die Wirkkraft solcher Dualismen kennt Zeiten der Konjunktur und Zeiten der Entmachtung; ihnen zugrunde liegt aber ein sich wiederholender Akkord, der im Denken der Negation gründet und der jederzeit wieder angestimmt werden kann.
Eine Aufhebung solcher Dualismen hat ihren Anfang im Begriff des ‚Kosmopoliten‘,78 der in der Stoa weitergeführt wird. „Die Stoiker betrachteten den vom logos durchwalteten Kosmos als ihre Heimat, an der alle Menschen [...] so gut wie die Götter und Gestirne, teilhatten.“79 „Das erste Vaterland, sagt Seneca [...],80 sei der Kosmos, das zweite jenes, in das man zufällig geboren sei. [...] Hier handelt es sich nicht um gegenseitig sich ausschließende Begriffe, sondern um Ergänzungsbegriffe verschiedener Größenordnung, die politische Aufgaben im Konkreten mit der allgemeinen philosophischen Welterfahrung vermitteln sollen. Der stilistische Dual zehrt nicht von der Negation.“81
Als eine bestimmte Form von Unterdrückung, Ausbeutung und Missachtung anderer Individuen ist auch die derzeitige Diskurslage überall auf der Welt zu werten, die zeigt, dass man häufig der Idee folgt, dass Andersdenkende am besten nicht gehört werden sollen, dass ihre Meinungen ausgemerzt werden sollen. Die Idee, dass man anderen mit Hass und Ablehnung begegnen muss; die Vorstellung, dass andere Menschen sich zu Dienern und Dienerinnen des eigenen Weltbildes machen sollen, die Annahme, dass wirklich und wahrhaftig von einer hierarchischen Einteilung der Menschen ausgegangen werden muss – das alles sind Formen von Unterdrückung und Unfreiheit in dem allgemeinen Sinne, dass andere Menschen als Individuen den jeweiligen Akteuren und Akteurinnen nichts gelten.
Sobald jemand damit beginnt, andere Menschen primär als Mittel für die eigenen Zwecke anzusehen und zu behandeln, können in diesem Kontext diese Anderen nicht mehr als Zwecke oder Werte oder Ziele in sich, die ohne Mittelfunktion sind oder jedenfalls sein können, aufgefasst werden. Abhängigkeiten, in denen andere Menschen in solcher Mittelfunktion gehalten werden, wobei ihre Individualität und individuelle Freiheit komplett ausgeblendet werden, finden sich überall, in allen möglichen Kulturen und Gesellschaften, zu allen möglichen Zeiten.
6. Individuelle Freiheit im Sinne der Aufklärung kann nur durch vergangenheitsfreies Denken realisiert werden.
Das wichtigste Kriterium auf dem Weg einer Selbstkultivierung der Menschheit (mit Kant: auf der Basis reiner praktischer Vernunft) ist das eines vergangenheitsfreien Denkens und Handelns, denn darin liegt die Voraussetzung, um überhaupt lernen zu können, wie eine formale Würdigung anderer Lebewesen als Zwecke an sich selbst in konkreten Lebenssituationen realisiert werden kann. Menschen, die dazu in der Lage sind, orientieren sich im Denken und Handeln nicht primär an vergangenen, tradierten Gruppenzugehörigkeiten, Normen, Gesetzen oder Zuständen, sondern an zukünftigen, möglichen Zuständen einer besseren Welt, die durch individuelle Freiheit und die unbedingte formale Würdigung jedes Menschen und Lebewesens als Zweck an sich selbst gekennzeichnet ist.
Diese Menschen treten nicht als Gruppen oder im Rahmen von Gruppierungen auf, sondern als Einzelne. Der utopische Zustand einer besseren Welt im genannten Sinne kann nicht durch Parteien, Religionsgruppen oder militärische Einheiten unter einem Oberbefehlshaber herbeigeführt werden (auch wenn diese vermutlich Vorstellungen von einer in ihrem Sinne besseren Welt folgen); der utopische Zustand im Sinne individueller Freiheit und der Würdigung der eigenen und aller anderen Personen als Zwecke an sich selbst ist ein Zustand der Welt, der tatsächlich bereits in den Ideen aufgeklärt denkender Menschen realisiert ist, und der nur von dort aus auch in der physischen Wirklichkeit Umsetzung finden kann. Zu diesem Zweck haben der vergangenheitsfreien, formalen Würdigung anderer Menschen fähige Menschen entweder bereits Zugehörigkeiten zu Stämmen, Familien, Traditionen, Hautfarben, Religionen, Körpergrößen, Geschlechtern usw. hinter sich gelassen oder betrachten diese als zufällige, nicht hauptsächliche Begleiterscheinungen ihres Seins.
Ihnen werden von allen möglichen Seiten Hindernisse in den Weg gestellt; eines der Hauptprobleme für die Realisierung utopischer Zustände in der physischen Wirklichkeit liegt in der Macht des homo oikonomikos: mit den ganzen einzelnen aufgeklärten Personen kann man einfach kein Geld machen. Mit einer Partei, die den Menschen Lösungen suggeriert, mit religiösen und traditionellen Vorstellungen, mit denen man Menschen in Abhängigkeiten hält, sowie mit Gewalt und Unterdrückung jeglicher Art lässt sich hingegen sehr wohl gutes Geld verdienen. Eine weitere Schwierigkeit: Man kann, mit Blick auf stark medial geprägte Öffentlichkeiten, nicht davon ausgehen, dass die vielen Einzelnen sich Gehör verschaffen können oder wollen; erst recht werden sie sich nicht zusammenschließen, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, oder höchstens im Notfall – denn warum sollten sie sich ihres Selbstverständnisses als freie Einzelne entledigen, um sich unter das Dach einer wie auch immer etikettierten Gruppe zu begeben?
Moderne, pluralistische Gesellschaften setzen sich real zusammen aus solchen Menschen und aus Menschen, die z. B. an Traditionen oder Gewohnheiten festhalten wollen oder müssen und also in eine Gruppen-Zugehörigkeit eingebunden sind. Daraus resultieren Spannungen, Feindseligkeiten, alle Arten von Problemen im Zusammenleben. Alle, die primär in Gruppen-Zugehörigkeiten denken oder gedacht haben, ob in dieser oder in anderen Gesellschaften, können im Allgemeinen nicht gut unterscheiden zwischen den verschiedenen Anteilen, denn ihnen fehlt die Perspektive des individuell freien Daseins, und von außen betrachtet sehen alle Menschen gleich aus, scheinen die gleiche Sprache zu sprechen.
Es hat nun aber niemand das Recht, seine oder ihre Gruppengeprägte Perspektive auf die Welt den anderen Menschen überzustülpen. Diejenigen, die des vergangenheitsfreien Denkens fähig sind und in der Lage, sich und andere Lebewesen als Zwecke an sich selbst zu behandeln, mögen physisch so aussehen, wie andere Menschen aussehen, und sie mögen unter Umständen auch nicht gut genug vernehmbar sein: Dennoch tragen nur sie den Kern einer Welt in sich, die ohne Unterdrückung und Ausbeutung und Hass auskommen wird. Sie sind grundsätzlich, und das heißt: immer und nicht nur dann, wenn es ihnen oder ihrer Gruppe in den Kram passt, in der Lage, allen anderen einzelnen Menschen und Lebewesen formale Würdigung und Respekt entgegenzubringen.
7. Missverständnisse über den angeblichen Rassismus und Kulturchauvinismus der Aufklärer
Häufig wird es als ‚Kulturchauvinismus‘ bezeichnet, wenn Theoretiker, etwa der Aufklärungszeit, die Errungenschaft der radikalen Idee individueller Freiheit in den Vordergrund stellen; es wird als eine Haltung arroganter Europäer gegenüber anderen Kulturen und Lebensformen verstanden, durch die sie sich selbst aufwerten und alle anderen abwerten wollen.
Mir scheint, dass das Teil eines traurigen Missverständnisses ist. Wenn in Texten aus jenen Jahrhunderten (17. und 18. Jahrhundert) etwas über indigene Ethnien, über andere Völker oder Kulturen geschrieben wurde, das uns heute deplatziert vorkommt, so muss man zunächst herausfinden, ob es aus der Perspektive eines Utopie-Denkens geschrieben wurde. Das prüft man, indem man andere Texte desselben Autors liest oder sich seinen Werdegang und allgemein seine Agenda ansieht (sofern darüber Informationen vorliegen). Wenn das der Fall ist, also wenn Texte aus der Perspektive eines Utopie-Denkens geschrieben wurden, dann sollten alle vorkommenden Ausdrücke in einem eigenen semantischen Horizont verortet werden. In diesem sind Bemerkungen, die (heute) auf den ersten Blick als abwertend oder verachtungsvoll gelesen werden können, gar nicht in einem beschreibenden Sinne auf bestimmte einzelne Personen beziehbar oder gemünzt. Stattdessen stellen sie in einem semantischen Horizont von Unterdrückungs- bzw. Freiheitsbegriffen Kodifizierungen für abhängige oder unabhängige Lebensweisen dar. Wenn Aussagen über mangelnden Arbeitseifer, über Ängstlichkeit, oder generell über das Naturell bestimmter Gruppen von Menschen gemacht werden, dann kennzeichnet das Dispositionen und Ausgangsbedingungen, in denen die angesprochenen Menschen innerhalb der jeweiligen Gruppe und Situation leben oder leben müssen, weil sie eben dort, wo sie leben, und so, wie sie leben, nicht über die Errungenschaft individueller Freiheit verfügen und in absehbarer Zeit darüber auch nicht werden verfügen können.
Die Semantik dieser Ausdrucksweisen speist sich vor dem Hintergrund, dass es gar nicht um die Beschreibung der Welt und der Menschen, sondern um die Erzählung einer Utopie geht, aus Bedeutungshorizonten, die allein den Kategorien ‚Unterdrückung‘ und ‚Freiheit‘ verpflichtet sind.
Nur wer den Kategorienfehler begeht, und die Schriften der Aufklärungsphilosophen im Licht der biographischen nationalen oder kulturellen Zugehörigkeit der Autoren liest und versteht, der kann auf die Idee kommen, dass hier Kulturen gegeneinander ausgespielt werden sollen. Nur wer die unsäglichen Rassentheorien des 19. und 20. Jahrhunderts und insbesondere die mit diesen verknüpften Intentionen rückwirkend allen Autoren der Aufklärung oktroyiert, hält diese selbst für rassistisch und kulturchauvinistisch, und zwar unter anderem deshalb, weil jeweils dieselbe Sprache und Semantik der verwendeten Ausdrücke und Sätze angenommen wird. Das aber ist Ausdruck einer Präsupposition von in nichts begründeten Linearitäten sowie Ausdruck fehlender hermeneutischer Sorgfalt in der Auslegung von Texten und Textstellen.
Außerdem: Es gab im 18. Jahrhundert in Europa ein breites Feld unterschiedlichster AutorInnen, und nur einige von ihnen sind zu den Denkern der Aufklärung resp. der radikalen Aufklärung82 zu zählen. Reaktionär-christliche, schwärmerisch-esoterische, gegenaufklärerische Autoren SIND KEINE AUFKLÄRER. Aufklärer sind die, die gegen herrschende Unterdrückung mit der Feder in der Hand angegangen sind. Ihre Texte können nur dann begriffen werden, wenn man sich vor Augen führt, in welch extremer Bedrohungslage freiheitlich gesinnte Menschen im 17. und 18. Jahrhundert leben mussten (s.o.). Politische Interessen und die Machtinteressen der Kirche dominierten das Alltagsleben, die Wissenschaft, die Bildung, das kulturelle Leben, die Wirtschaft; und in Form von rigider Zensur bestimmten und bedrohten sie das Leben und Arbeiten all derjenigen, die Aufklärung anstrebten.
Wenn man also in der Rezeption und Auslegung der Texte von Autoren der Aufklärungszeit, in deren Denken und Schreiben die Aufklärung als Utopie zentrale Bedeutung hatte, den Fokus auf die Utopie der Befreiung von Abhängigkeit und Unterdrückung durch bestimmte Autoritäten legt, wenn man diese Theorien der Aufklärung als Theorien über individuelle Freiheit und Autonomie des Menschen, verfasst von autonomen Individuen, erkennt, dann begreift man, dass die Biographie des Autors, der Ort, wo er aufwuchs, die Zahl seiner Schwestern, seine Augenfarbe oder andere kontingente Merkmale seines Lebens, nicht relevant für seine Leistung ist. Genauso irrelevant für die in die Zukunft hinein als möglich gedachte Emanzipation anderer Völker von ihren Unterdrückern ist es daher, welche körperlichen Merkmale die einzelnen Menschen dieser Völker ausgebildet haben.
Das heißt, mit einer Zuschreibung, die ein Gruppenmerkmal verwendet, kann – aus der Perspektive individueller Freiheit – grundsätzlich kein Individuum als solches angesprochen werden, das (zufällig) in dieser Gruppe lebt. Derartige Merkmale können am Rande mitgenannt werden; ihre Bedeutsamkeit für ein Individuum müsste aber jeweils von diesem selbst festgelegt werden. Der Grund dafür, dass gruppenbezogene Merkmale prinzipiell untauglich sind, wenn ein freies oder doch der Möglichkeit nach freies Individuum angesprochen werden soll, zeigt sich faktisch in jeder einzelnen Biographie, die belegt, wie jemand auf dem Weg zu Freiheit und Selbstbestimmtheit solche Prägungen und Bestimmungen hinter sich lässt oder lassen muss. Natürlich sind wir alle durch das Umfeld und die Kultur, in der wir aufwachsen, geprägt, aber immer haben wir, schlicht dadurch, dass wir Menschen sind, die Möglichkeit, uns von solchen und anderen Einflüssen zu befreien, sie anzuzweifeln, sie abzulehnen, sie in einen anderen Rahmen zu setzen oder einfach uns andere Umfelder zu suchen, in die wir, als Einzelne, besser ‚hineinpassen‘.
Nun ist es sicherlich möglich, die Idee individueller Freiheit als nicht erstrebenswert, als falsch und als andere Kulturen in unzulässiger Weise überformend aufzufassen. Man könnte also fordern: Laßt doch den wo auch immer heimischen Menschen ihre Lebensweise und macht sie auf keinen Fall mit der radikalen Idee individueller Freiheit bekannt! Das fordert man soweit ich sehe aber gar nicht, sondern man fordert eher so etwas wie: Laßt doch den wo auch immer heimischen Menschen ihre Lebensweise und macht sie auf keinen Fall mit ‚europäischer‘ Denkweise bekannt!
In Europa oder den Ländern der westlichen Welt lebt und lebte die Mehrheit der Menschen aber gar nicht in einem Zustand radikaler individueller Freiheit; viele würden einen solchen auch nicht als erstrebenswert erachten. Auch hier herrscht bei Vielen nach wie vor die Meinung, ein zufriedenes Leben ist nur möglich, wenn man in der Gruppe, zu der man sich zugehörig fühlt, aufgeht. Daher ist es mindestens fragwürdig, Aufklärungsdenken als ‚europäisches‘ Denken zu bezeichnen. Ich wiederhole: Aufklärung wurzelt zwar ihrer Möglichkeit nach in bestimmten historischen Ereignissen und Entwicklungen, und die haben sich vielfach in Europa abgespielt; sie hätten sich aber genausogut in einem anderen Weltteil zutragen und dann dort die Bewegung der Aufklärung hervorbringen können. Deshalb ist eine geographische oder auch z. B. kapitalismuskritische Bestimmung dieser Denkbewegung nicht sinnvoll, und wenn man sie vornimmt, hat man eben leider nicht verstanden, worum es den Denkern der Aufklärung ging. Man zerrt ihr Denken und Wollen aus den Höhen der Utopie in die Niederungen nationalistischer oder rassistischer Denkformen hinab. Man rechnet sie zu den reichen, mächtigen Menschen in der Geschichte, weil sie nicht in einem Slum leben mussten, weil sie zu essen hatten und einen Arzt.
Solche Vorwürfe mögen aus einer bestimmten Warte berechtigt sein, mir scheint aber, sie vergessen das Elend und Leid, das sich, wie oben angedeutet, im Leben derjenigen Autoren im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts ausgebreitet hat, die zu deutlich und zu radikal gegen die (weltlich und geistlich) Mächtigen vorgegangen sind. So wenig wie jemand in einem Slum die Möglichkeit bekommt, weltverändernde Ideen aufzuschreiben und sinnvoll zu verbreiten, so wenig war es den allermeisten Frauen und ebenso den meisten Männern in jenen Zeiten möglich, Kritik zu äußern und diese dann auch noch gelungen zu verbreiten.
Um ihre Ideen zu Papier zu bringen bzw. zu gewährleisten, dass diese Ideen überhaupt von anderen Menschen gelesen werden konnten, mussten Autoren häufig in die Trickkiste greifen. Zum Beispiel hat man Zitate und indirekte Bezüge auf Schriften anderer, teils antiker Autoren eingeflochten, mitunter hat man diese Zitate modifiziert. Eine Dechiffrierung gelingt von heute aus erst dann, wenn man das ursprüngliche Zitat kennt. Erst nach solchen Entschlüsselungsleistungen wird klar, woran diesen Autoren lag, was sie eigentlich im Sinne hatten. Aber auch mit Methoden der Chiffrierung verband sich noch eine gewisse Gefahr, denn die Personen, die jeweils mit der Zensur beauftragt waren, waren selbst entweder Priester, Theologen oder anderweitig Gelehrte, häufig bekleideten sie Professuren an höheren Schulen oder Universitäten. Auch sie hatten die übliche akademische Bildung genossen und verfügten im allgemeinen über die nötige Kenntnis entsprechender Schriften, aus denen Aufklärer zum Zwecke der Kritik an Herrschaftsverhältnissen, an Unterdrückung der einzelnen Menschen durch die Mächtigen der Zeit und an allgemein üblicher geistiger Bevormundung subversiv zu zitieren gedachten.
Ein weiteres probates Mittel beim Verfassen von Schriften bestand darin, die Texte doppelbödig zu machen: eingeflochten in geradeheraus geäußerte Sätze und Aussagen, mitten in mehr oder weniger trockenen Untersuchungen von Argumenten oder Thesen arbeitete man ironische, satirische, parodierende Elemente ein, und zwar so, dass der Zensor es nicht mitbekam oder besser noch: gar nicht erst nicht mitbekommen konnte. Mitunter steht daher in bestimmten Passagen bestimmter Schriften sogar das genaue Gegenteil dessen, wofür der Autor oder die Autorin eintrat.
Insbesondere Voltaire und Montesquieu haben in bestimmten Texten die satirische Form der Kritik an Kirche und Staat gewählt, z. B. hinsichtlich der Art und Weise, wie Versklavung, Unterdrückung und Ausbeutung von Menschen anderer Völker und Kulturen gerechtfertigt oder auch gern unter den Teppich gekehrt wurde. Man kann ihnen das vorwerfen; auch Kant kann man vorwerfen, er hätte politischer schreiben müssen, die Mächtigen der Zeit in ihrer Gier und Doppelmoral direkter angreifen müssen usw. Es ist möglich, in dieser Weise an Texte einer vergangenen Epoche heranzutreten, diese im Nachgang mit eigenen hehren Aufklärungs-Ansprüchen zu konfrontieren und abzuurteilen. Sicherlich geschieht das häufig auch in der bitteren, verzweifelten Erkenntnis, dass man geschehenes Unrecht nicht mehr an den Individuen wieder gutmachen kann, die es direkt haben erfahren müssen.
Man muss sich aber in jedem Fall darüber im Klaren sein, dass sich die Autoren, die man dabei in den Blick nimmt, auf extrem schmalen Graten bewegten. Es gab keine breite oder in eine mögliche Breite diffusionsfähige Wissens- oder Informationskultur, auf die man hätte bauen können; man war mit seinen Schriften und in seinem Denken vollständig auf sich gestellt, und man war nicht nur der rigiden Zensurpolitik, sondern auch einer Bevölkerungsmasse ausgesetzt, die glaubte und glauben musste, was von oben herab erzählt und eingetrichtert wurde. Wie Sue Peabody eingangs ihrer Untersuchung ‚There Are No Slaves in France‘. The Political Culture of Race and Slavery in the Ancien Régime schildert, reicht der Einfluss jener Zeiten durchaus sehr effektiv auch noch bis in das Bewusstsein heute lebender Franzosen hinein und beeinflusst diese dahingehend, dass sie wirklich und wahrhaftig der Überzeugung sind, ihr Land, ihre Nation habe keine Versklavung gekannt.83
Eine weitere grundlegende Schwierigkeit liegt darin, dass man heute bestimmte kulturelle und sprachliche Linearitäten präsupponiert, Linearitäten, mittels derer man, aus der heutigen Vorstellungswelt kommend und mit ihren hermeneutischen Regularien vertraut, sich anzunehmen berechtigt sieht, jedes Wort in den Texten der Aufklärung müsse rhetorisch von derselben Weise, wie man Theorien heutzutage konzipiert, getragen und in derselben Weise aufzufassen sein. Die ganzen satirischen Schriften der Philosophiegeschichte (und davon gibt es eine ungeheure Menge) kennt man heute kaum noch, denn man liest sie überhaupt nicht mehr, jedenfalls nicht im Philosophiestudium. Schon gar nicht baut irgendjemand über Analysen solcher Texte seine akademische Karriere auf. Wenn in dieser Weise in die kommenden Jahrhundert hinein weiter verfahren wird, dann fallen viele antike Texte und viele Texte des Humanismus, der Reformation, der Frühaufklärung und Aufklärung irgendwann vollständig weg.
Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu (1689-1755) ist heute in erster Linie wegen seiner staatstheoretischen Schriften bekannt. Er begann aber als Autor, abgesehen von kleineren Aufsätzen und Beiträgen, mit einem (1721) anonym in Amsterdam veröffentlichten Briefroman Lettres persanes (Persische Briefe), der sofort offiziell verboten wurde. Bei diesem Briefroman handelt es sich im Grunde um einen alle relevanten Fragen der Moral, Religion, Gesellschaft, des Friedens, der Politik berührenden Traktat der Aufklärung. Insbesondere werden in diesem Briefroman indirekt, stilistisch flankiert durch Spott und Ironie, die herrschenden Verhältnisse in Frankreich angeprangert, und zwar auf dem Wege der Aufklärung durch Ermöglichung der Aufklärung, also: dadurch, dass man den Leser und die Leserin zum Nachdenken anhält und ihn und sie zu einem kritischen Blick erzieht. So verfahren alle utopisch konzipierten Schriften dieser Epoche, wie sie besonders in England beliebt waren: man konstruiert einen externen (realen oder virtuellen) Standpunkt eines Beobachters der Verhältnisse (im eigenen Land) und kann so umfassenden Tadel formulieren ebenso wie radikale Veränderungsvorschläge unterbreiten.
Montesquieus Hauptwerk De l’esprit des loix84 (Vom Geist der Gesetze) löste großen Widerstand von verschiedensten Seiten aus, weshalb er 1750 in Genf die Verteidigungsschrift: Défense de l’Esprit des Lois veröffentlichte, was aber zumindest die Bücherwächter nicht beeindruckt hat. De l’esprit de loix wurde 1751 von der Katholischen Kirche auf den Index verbotener Bücher gesetzt, wo das Buch bis 1967 stand (in dem Jahr wurde der Index abgeschafft).
8. Welche Argumentationsformen sind für die Aufklärung nützlich? Was sollen die abfälligen Passagen über Menschen anderer Kultur und Herkunft? Bemerkungen zu Kants Philosophie und ihren Zielen und Ansprüchen vor dem Hintergrund anderer Texte und Debatten der Aufklärung
Auch Kant wird, neben Montesquieu, Voltaire und weiteren Denkern der Aufklärung, vorgeworfen, er habe sich despektierlich gegenüber anderen Ethnien und Kulturen geäußert, er sei daher Rassist (oder mindestens Kulturchauvinist) gewesen. Ich versuche das Problem daraufhin zu erörtern, woran genau sich die Bedeutung der fraglichen Wörter und Passagen festmacht und welche Funktion diese haben, die ja im Gesamtwerk nur vereinzelt auftauchen, aber eben darum auch so unpassend wirken.
Während es in jedem Falle klug und geboten ist, kritische Nachfragen an ältere Texte und ihre AutorInnen zu stellen, und man dies üblicherweise jeweils im größeren Kontext disziplinärer wissenschaftlicher Beschäftigung mit einem Werk vornimmt, sieht die Art und Weise, wie man aktuell bestimmten Autoren, z. B. der Aufklärungszeit, Rassismus, Chauvinismus, Sexismus vorwirft, eine umfassende Berücksichtigung des Gesamtkorpus der Schriften jeweils nicht vor. Die fraglichen Stellen sollen genügen, und zwar im Sinne des Gedankens: Wäre der Autor wirklich ein herausragender Geist, nicht nur seiner Zeit, sondern auch der Menschheitsgeschichte insgesamt, dann hätte er nie eine einzige der fraglichen Bemerkungen zu Papier bringen dürfen.
Abgesehen von allen Schiefheiten, die bereits diese Ausgangslage verursacht, sind nun die Reaktionen, etwa im Falle Kants, nicht unbedingt hilfreich. Es kann ja nicht darum gehen, einen Autor ‚retten‘ zu wollen, worauf aber ganz offensichtlich abgezielt wird, wenn man etwa behauptet, die wenigen Ausdrücke und Bemerkungen seien ‚ja nicht so schlimm‘, oder sie seien ‚der Zeit geschuldet‘. Noch fragwürdiger ist es, wenn man behauptet, die Worte stammten gar nicht vom Autor, sondern von anderen Personen, oder sie stammten aus einer Zeit, in der der Autor noch nicht zur völligen philosophischen Reife gelangt sei, oder sie entstammten seinen philosophisch gesehen zweitrangigen Schriften. Die letztgenannten ‚Rettungswege‘ stellen sich aus meiner Perspektive als völlig widersinnig dar. Ich halte sie für ebenso verfehlt wie allgemein die Ansätze in der Forschung zu Kant, mit denen man seit jeher gern bestimmte Schriften, die einem nicht passen, aus einem Kanon auszuschließen versucht, den man sich somit letztlich selbstgestrickt hat; das ist zwar sehr praktisch, denn dadurch reduziert man deutlich die Textmasse, mit der man sich befassen möchte. Zugleich aber nimmt man sich (und Kant) auf diese Weise von vornherein jede Möglichkeit, und sei es nur probehalber, sein philosophisches System als ein geschlossenes, geplantes Ganzes zu verstehen.
Aus einer von mir 2017 eingeführten Perspektive stellt sich seine Philosophie als genau ein solches von Anfang an geplantes System dar, das schrittweise, über viele Jahrzehnte hinweg, im Sinne skeptischen Denkens argumentativ abgesichert und in Weite und Tiefe ausgeformt wird.
Aus dieser Perspektive gehören auch die Stellen, die man schwer ertragen kann, zum Ganzen intrinsisch dazu; dieses verstehe ich als eine einzige zusammenhängende Argumentation, die über alle Druckschriften hinweg geführt wird und mit der Kant zugleich ein philosophisches System erbaut, und zwar in umfassender Kenntnis der philosophischen Tradition, anhand fortwährender Absetzung sowie auf der Grundlage einer den Zusammenhang und die Gedankenführung im Ganzen wie im Einzelnen anleitenden Planungsidee. Dieses System steht fest und sicher auf den Grundpfeilern der Kritik und Transzendentalphilosophie. Der Bau wird im Werk mittels einer Methodenführung realisiert, die die in der Tradition oder im Alltagsdenken vorliegenden Begriffe und Vorstellungen weder von vornherein übernimmt noch von vornherein ablehnt, sondern sie vorläufig aufnimmt und dann testet. Dabei werden argumentativ auch Mittel begrifflicher Kontrastbildung sowie der Ironie und Satire eingesetzt, indem unvermittelt Ausdrücke oder Aussagen miteinander kombiniert werden, die gegensinnig sind oder die dem widersprechen, was zuvor ausgeführt wurde. Die Leser und Leserinnen sollen das feststellen; es soll sie, wie ich andernorts versucht habe zu erläutern, zum Selbstdenken motivieren.
Das Entscheidende an den Arbeiten Kants und anderer Aufklärungsphilosophen muss nun 1) in den Texten hinter den Texten gesehen werden. Man hat es in vielen Passagen mit replizierenden Aussagen und Anspielungen zu tun. Die Texte sind daher als mehrschichtig konzipierte Texte zu verstehen. Hinter bestimmten Passagen in Voltaires Texten stehen häufig Texte von Autoren, die er attackiert und verspottet (Maupertuis, Bossuet, Bouhours, Dubos u.a.); das gilt auch für Montesquieus Texte, und auch bei Kant verhält es sich so; er wiederum referiert auch auf Voltaire und Montesquieu (und viele andere).
Nun stellt sich hier die Rezeptionsgeschichte selbst ein Bein, und zwar aus zwei Gründen: Die Mehrschichtigkeit der Texte ist zumindest innerhalb der Philosophie völlig aus dem Blick geraten, insbesondere weil man seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr akzeptieren will, dass ältere Autoren ihre Bezüge nicht explizit machen, dass sie Autoren, auf die sie replizieren, nicht namentlich nennen. Zwar platzieren sie bestimmte deutliche Stichwörter (und zu ihrer Zeit haben die informierten Zeitgenossen sofort gewusst, was und wer gemeint war), nur muss man diese Stichwörter heute auch als solche erkennen WOLLEN. Zum zweiten werden natürlich die Schriften der berühmt gewordenen Autoren (wie Voltaire, Kant, Montesquieu, Hume und andere) seit ihrer Zeit gründlich gelesen, die Texte, auf die sich sich implizit beziehen, aber überhaupt nicht mehr. Das ist eine durch die Rezeptionsgeschichte selbst verursachte Asymmetrie, die sich besonders erbärmlich dort auswirkt, wo man in Kombination mit der zuvor genannten Weigerung, Anspielungen zu erkennen, sowie motiviert durch das heute allenthalben als große Errungenschaft der analytischen Philosophie verkaufte selektive und fragmentarische Lesen gar kein Bewusstsein des gesamten Zusammenhanges von Gedanken, Argumenten, Begriffen und Anspielungen in ihrer gegenseitigen Bezugnahme mehr haben KANN.
Ein weiteres methodisches Problem: Man befasst sich heutzutage mit Voltaire, Rousseau oder Montesquieu stärker im französischsprachigen, mit Kant, Reimarus oder Lessing eher im deutschsprachigen, mit Pope, Swift, Shaftesbury oder Hume eher im englischsprachigen Raum. Die Nähe im Denken und Vorgehen zwischen diesen und weiteren Autoren insbesondere der Aufklärungszeit kann vor diesem Hintergrund gar nicht mehr adäquat in den Blick genommen werden. Seinerzeit spannte sich über Europa ein weites Netz wissenschaftlicher Interaktion, Kommunikation, Kenntnisnahme und Würdigung untereinander. Dieses Ganze kann man nicht sinnvoll eruieren, wenn man den Untersuchungsgegenstand zuvor in sprachliche und disziplinäre Sparten unterteilt hat, zwischen denen so gut wie kein Austausch stattfindet. Die disziplinäre Drift verdankt sich dem Umstand, dass etliche der großartigsten Schriften der Aufklärungszeit dank des fortwährenden Wegbrechens zentraler Themenbereiche, aus denen eigene Teilwissenschaften entstanden (Soziologie, Psychologie), im Wandel der Zeiten nicht mehr der Philosophie zugerechnet wurden.
Es fragt sich, ob die Fragestellungen und Methoden der Analyse der Philosophiegeschichte nicht angepasst werden müssten. Hinzu kommt: Innerhalb der Kultur- und Philosophiegeschichte liegt das Augenmerk kaum jemals auf dem Riss, der die Aufklärung von allem trennt, was sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts überall in Europa entwickelt – eine Trennung, die so radikal ist, dass für die Methoden und Ideen der Aufklärer und die Methoden und Ideen der nächsten Generationen im Grunde keine gemeinsame Basis mehr ausgemacht werden kann. Es gibt keine Linearität zwischen den Verstehensbedingungen, und keine Kommensurabilität der Gedanken und Ziele.85
2) Das zweite Entscheidende an den Texten vieler Aufklärungsphilosophen ist die Idee der Wirksamkeit von Utopien bzw. der Verdrehung der Perspektive: Es geht primär um den Blick von außen auf die Zustände in der eigenen Gesellschaft (oder Welt). Die Möglichkeiten, mittels dieses Verfahrens radikale kritische Anmerkungen anzubringen, liegen auf der Hand. Aufklärungsphilosophen nutzen ‚das Fremde‘ im Sinne eines der Science-Fiction ähnlichen Ansatzes zur Reflexion über ‚das Eigene‘ resp. zur Überzeichnung (Karikatur) ‚des Eigenen‘.
Beides: die Texte hinter den Texten und der in einem utopisch-fiktionalen Sinne literarische Charakter der Schriften der Aufklärer wird für die folgenden Überlegungen im Vordergrund stehen; hinsichtlich heute problematisch erscheinender Aussagen über außereuropäische Kulturen oder Ethnien kann das Folgende vorausnehmend im Hinblick auf beide Charakteristika festgestellt werden: Es ist die Doppelbödigkeit bestimmter Schriften und Sätze, die nicht unterschlagen werden darf; es ist ihre Doppelbödigkeit, die die Schriften zu veritablen Texten aufklärerischer Ambition und Intention macht, und es ist die Unkenntnis dieser Doppelbödigkeit, die dazu beigetragen hat, dass für die Bewertung der Aufklärung und ihrer Texte häufig inadäquate Kriterien angelegt werden.
Das Folgende unterteilt sich in mehrere Abschnitte:
1. Charakteristika der Schriften der Aufklärung und Frühaufklärung – einige Beispiele. 1.1. Der Blick von außen zum Zweck der Kritik. 1.2. Religion oder Naturwissenschaft? 2. Die Texte und Debatten hinter den Texten der Aufklärung. 3. Sinn und Zweck des Einbezugs des Fremden – Der ‚Wilde‘ im kantischen Druckwerk. 4. Kants diskursive Methode. 5. Wie untersucht man Unterschiede zwischen Menschen auf dem Globus? 6. Die Verortung zwischen Physischer Geographie, Geschichtsphilosophie und Natur-Wissenschaft. 7. Die Agenda des Druckwerks ist nicht die der Vorlesungen – Menschenbilder in den Vorlesungen. 8. Für wen gilt die Aufforderung der Aufklärer zur Selbstbefreiung? 9. Zusammenfassung.
1. Charakteristika der Schriften der Aufklärung und Frühaufklärung – einige Beispiele
1.1. Der Blick von außen zum Zweck der Kritik
Samuel Pufendorf veröffentlicht seine Schrift über die Verfassung des deutschen Reichs86 1667 unter Pseudonym (Severinus von Monzambano); er schreibt in der ersten Person und in lateinischer Sprache und richtet die Sätze an Severinus‘ fiktiven Bruder Laelius. Das Geheimnis seiner Autorschaft lüftet er explizit erst in einer Ausgabe des Textes, die 1706 erscheint, als er bereits verstorben ist. Pufendorfs Schrift ist radikal kritisch, teils verfährt er sogar schonungslos in der Bewertung klerikaler (katholischer) Ansprüche. Neben der die eigene Existenz schützenden Pseudonymität ist das Faszinierende an diesem Text der einkomponierte Blick von außen, der rhetorisch eine Objektivität einbringt, die, als fingierte, dazu aufruft und ermuntert, über Perspektivwechsel und deren methodischen Nutzen nachzudenken.87
Ganz genau so ist auch die fiktive Reisebriefliteratur angelegt, zu denen Montesquieus persische Briefe (Lettres persanes, 1721) gehören, ebenso etwa auch Voltaires Letters Concerning the English Nations (1733; ein Jahr später als: Lettres philosophiques), in denen es um die Eigenarten der Engländer zu gehen scheint, die aber eigentlich eine harsche Kritik der französischen Gesellschaft beinhalten. Auf dieselbe Kritik an den Zuständen der eigenen Gesellschaft zielen analog, wie allgemein bekannt ist, Swifts Gullivers Reisen in unbekannte Länder88 oder Defoes Robinson Crusoe ab. Diese beiden Bücher wurden im Laufe der Zeit, teils unter Auslassung wichtiger Passagen, zu Kinderbüchern degradiert. Heute sind sie im Lehrplan akademischer Philosophie nicht mehr vorgesehen.
Den Blick von außen, teils verbunden mit dem Blick in ein anderes ‚Innen‘ und in völlig neue Welten, komponieren auch andere Autoren ein, etwa Thomas Morus89 und Erasmus von Rotterdam (beide sich auf Lukian von Samosata berufend, den ersten Science-Fiction-Autor überhaupt)90, Tommaso Campanella (Civitas solis, 1623), Francis Bacon (Nova atlantis, 1627), Gabriel de Foigny (La terre Australe connue, 1676), Bernard le Bovier de Fontenelle (Entretiens sur la pluralité des mondes, 1686) oder François de Salignac de La Mothe-Fénelon (Aventures de Télémaque, 1699). Auch Voltaire arbeitet mit diesem Blick von außen, oft geknüpft an spontane Perspektivwechsel, und zwar wirklich hundertfach in seinen Schriften; teils legt er ihn diesen zugrunde (z. B. Micromégas). Der weniger bekannte Louis-Armand de Lom d’Arce, genannt Baron de Lahonton (1666-1716) nutzt die Umkehrung der Perspektive in seinen Dialogues de Monsieur le Baron de Lahontan et d’un Sauvage, dans l‘Amérique (1704).91 Angeprangert wird indirekt europäisches Verhalten, die europäische Zivilisation; Adario, der fiktive Dialogpartner, bekommt die Rolle des klugen, tugendhaften ‚Wilden‘. Auch im späteren 18. Jahrhundert erscheint weiter Belletristik mit der einkomponierten Kulturkritik „vom archimedischen Punkt der überseeischen Kulturform aus“.92
In all diesen (und vielen weiteren) Schriften geht es immer (versteckt hinter der Geschichte) um Sozial- und Kulturkritik an europäischen Gesellschaften. Der Aufklärung lag hier und auch im Ganzen stets zuerst daran, vor der eigenen Tür zu kehren. Sie findet verschiedene Wege, das ‚Fremde‘ und ‚Andere‘, ohne dass weiter ein Bezug auf Götter und himmlische Sphären nötig ist, in Form von literarisch geformten menschlichen oder extraterrestrischen Lebewesen oder Interaktionen für moralische Unterweisung oder Gesellschaftskritik oder Selbstreflexion zu benutzen.
Eine universalistisch angelegte Kritik z. B. an Aberglaube oder Religion als solcher verfährt im Grunde ebenfalls im Sinne eines Blickes von außen, wenn sie sich mit keiner konkreten Religiösität zu identifizieren vermag, entweder aus einem veritablen Atheismus heraus oder, wie man es z. B. aus Lessings Nathan der Weise kennt, der Idee folgend, die Ernst Cassirer als Idee der „Identität der Religion in aller Verschiedenheit der Riten und in allem Gegensatz der Vorstellungen und Meinungen“ bezeichnet.93 Insbesondere Voltaire überzieht ganz gleich welche religiöse Gruppe mit scharfer Polemik, die teils direkt, teils indirekt vorgebracht wird, mit dem Ziel, so Cassirer, zu zeigen, „wie wenig der Kern der Religion und der Sittlichkeit von den besonderen Glaubensvorstellungen abhängig“ ist; diese Polemik wirke zwar einerseits destruktiv, andererseits gelte: „sie will die Destruktion als Mittel des Aufbaus benutzen“.94 Voltaires Absicht ist es, eine allgemeine menschliche Geistesgeschichte zu schreiben95 und ein allgemeines menschliches Toleranzprojekt ins Leben zu rufen. Seine erklärten Feinde sind die rückwärtsgewandten, klerikalen Repräsentanten des Ancien Régime.
1.2. Religion oder Naturwissenschaft?
An verschiedenen menschlichen Phänotypen auf dem Globus versuchen sich verschiedenste Erklärungsansätze; Kapitän John Atkins vertrat als einer der ersten die Idee mehrerer Stammeltern der Menschheit.96 Fragen der Entstehung von Mensch und Tier wurden sonst allgemein an Antworten geknüpft, die man der Bibel entnehmen zu können meinte. Offensichtliche Diskrepanzen zwischen den religiösen Texten und naturwissenschaftlichen Befunden kulminierten dann in verschiedenen Hypothesen, etwa dem Präadamitismus.97 1684 hatte François Bernier die erste Theorie über verschiedene menschliche Rassen aufgestellt, eingeteilt nach Lebensräumen und unterschiedlichen Phänotypen, und recht willkürlich in der Wahl der Abgrenzung. Die erste besiedele Europa bis zum Nil, Asien, Persien und die Malediven; die zweite den Rest von Afrika; die dritte finde sich rund um den Indischen Ozean, in China und Zentralasien. Die vierte seien die Lappen. 1758 schlägt Carl von Linné in seinem Systema naturae vier Varietäten des homo sapiens vor, denen phänotypische Merkmale (Hautfarbe) sowie Merkmale aus der antiken Temperamentenlehre zugeordnet werden: Amerikaner seien von roter Farbe und Choleriker; Europäer weiß und Sanguiniker; Asiaten hellgelb und Melancholiker; Afrikaner schwarz und Phlegmatiker. „In einer späteren Edition wurde die menschliche Gattung in zwei Klassen unterteilt; die eine davon, die niedrigere, enthielt den hochentwickelten Affen sowie den kaum entwickelten Menschen, den Eingeborenen oder jenen ‚Wilden Mann‘ [...]; der anderen, höheren Klasse gehörte der zivilisierte Europäer an.“98 Auch Johann Friedrich Blumenbach klassifiziert, zuerst 1775 in seiner Dissertation De generis humani varietate nativa, den Homo sapiens nach Ausprägungen. Er teilt ein in: Europäer, Mongolen (= Asiaten), Äthiopier, Amerikaner und Malayen. Für Blumenbach stellen die Europäer (Kaukasier) den Ursprung der anderen Varietäten dar, mit der Begründung, sie seien die schönste Varietät. Buffon unterscheidet 6 ‚Menschenracen‘ (Lappländer, Mongolen, Südasiaten, Europäer, Äthiopier und Amerikaner). – Alle diese Einteilungen wurden recht willkürlich, auf der Basis nicht des besten Datenmaterials, vorgenommen; oft folgte das Einteilen taxonomischer, wissenschaftlicher Neugier und hatte noch nichts Bewertendes an sich.
Wenn aber geschichtsphilosophische oder religiöse Vorstellungen hinzukommen, wenn man etwa mit biblischen Erzählungen über angebliche Stammväter der Menschen in den verschiedenen Erdteilen bestimmte Ausprägungen und Lebensweisen erklären will,99 dann wohnt darin meistens bereits die Tendenz zur Be- oder Abwertung. Dasselbe gilt für Autoren, die von einem ‚Fortschritt‘ der Menschheit ausgehen, darunter durchaus auch Verfasser von Reiseberichten,100 und es gilt insbesondere von den geschichtsphilosophischen Bemühungen, ein großes Ganzes der Kulturentwicklung der Menschheit dazustellen.
2. Texte und Debatten hinter den Texten
Kant hat die Debatten seiner und älterer Zeiten gut gekannt, und er geht mal genauer, mal nur kursorisch, auf sie ein. Replizieren ist bei Kant die Basis der Komposition und des Systemaufbaus, der in jeder Schrift, beinahe in jedem zweiten oder dritten Absatz, entsprochen wird. Das Ziel ist, die eigene Philosophie als Antwort auf jegliche Frage und jegliches Problem zu präsentieren, aus welchem Bereich auch immer sie oder es stammen mag. Davon sind aktuelle Entwicklungen nicht ausgenommen. Die Bezugsautoren der Repliken werden aber, wie eingangs als allgemeine Gepflogenheit der Zeit charakterisiert, selten namentlich genannt.
Nur ist es gleichwohl für eine gründliche Beschäftigung mit Kants Schriften unabdingbar, diese Quellen frei zu legen, auf die er sich bezieht. Wenn man so vorgeht, dann keineswegs, um Kant zu historisieren, um seine Leistung an die philosphische Tradition zu knüpfen und damit ihrer Genialität und Originalität zu berauben – nein, im Gegenteil: erst wenn man die Quellen und Bezüge vollumfänglich offen legt, erst dann ist man überhaupt in der Lage, das, was Kant da (im Einzelnen wie im Ganzen) vollbringt, wirklich und wahrhaftig in seinem ganzen Ausmaße zu erkennen und zu würdigen. Durch das Gesamtwerk finden Auseinandersetzungen mit den verschiedensten Theorien der Tradition statt; Kant geht skeptisch vor und prüft Geltungsansprüche entlang einer hypothetischen Argumentation, die stets über mehrere Schriften hinweg geführt wird. Man sollte demnach vorsichtig sein mit der Auslegung. Häufig liegt eine Diskrepanz vor zwischen den Aussagen, wie sie sich auf den ersten Blick darstellen, und ihrer eigentlichen Bedeutung, der man auf die Spur kommt, wenn man den Kontext genau beachtet und den Hintergrund anderer relevanter Theorien kennt. Insbesondere muss die Möglichkeit eingerechnet werden, dass der Autor doppelbödig schreibt.
Für die Frage, in welcher Weise Kant Menschen anderer Kulturen und Ethnien zur Sprache bringt, müssen die Schriften Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764), Von den verschiedenen Racen der Menschen (1775/1777), die Besprechung von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1785), der Aufsatz Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace (1785) sowie die Abhandlung Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie (1788) in den Blick genommen werden, außerdem die Critik der Urtheilskraft (1790), die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) und die Physische Geographie (1802).
Alle Verfahrensfragen, die direkt oder indirekt in den Schriften der 80er Jahre gestellt werden, werden durch die anschließende Critik der Urtheilskraft beantwortet, die es ermöglicht, dass eine genaue und abgesicherte Einordnung des Status teleologischer Aussagen auf der Grundlage eines transzendentalphilosophischen Prinzips vorgenommen werden kann. Denn die Wissenschaftlichkeit jeder Disziplin und jedes Systemteils steht auf dem Spiel. Gemeinhin erkennt man das dort als Ziel kantischer Projekte an, wo es explizit genannt wird (Prolegomena). Der Plan, Metaphysik als Ganzes wissenschaftlich zu machen, musste aber in allen Teilgebieten der Metaphysik vorbereitet und durchgeführt werden, und eins dieser Teilgebiete ist eben die Wissenschaft vom Menschen.
Sie ist eine sehr alte Disziplin, die im 18. Jahrhundert durch Einbezug der Naturwissenschaften methodisch renoviert werden soll. Man ist (in ganz Europa) sehr eifrig um die nötige Datengrundlage bemüht, und die findet man zum einen in medizinischen bzw. physiologischen Schriften und Journalen, zum anderen in Reiseberichten. Über Bewohner anderer Erdteile hatte es, seit der Antike, immer sowohl Informationen als auch Desinformation in Form von Schauergeschichten gegeben; häufig wuchs die Anziehungskraft und somit auch der Verkaufswert entsprechender ‚Berichte‘ proportional mit der Zahl der darin enthaltenen Sensationen und Monstrositäten – und zwar über lange Zeit hinweg unabhängig davon, wieviel Evidenz solche Schilderungen beanspruchen konnten.
Zwar nahm nach und nach der Anteil seriöser Berichte zu, aber nicht lange bevor Kant seinen Aufsatz von 1775 veröffentlichte, hatte zum Beispiel in Preußen eine Debatte stattgefunden, die dadurch ausgelöst wurde, dass ein Geistlicher, der selbst nie amerikanischen Boden betreten hatte, eine Schrift über verschiedene Menschensorten („Espece humain“) vorlegte, in der er die indigenen Menschen Amerikas als degeneriert sowie körperlich und geistig den Europäern unterlegen darstellt.101 Der Name dieses Autors: Cornelis de Pauw (1739-1799). Man replizierte umgehend und attackierte ihn, von mehreren Seiten, in Form von längeren und kürzeren Beiträgen, und diese Dispute zogen sich über Jahre hin. Es gibt, so Gisbert Beyerhaus, „wenig Beispiele eines so jähen Aufleuchtens und völligen Versinkens wie den niederrheinischen Abbé de Pauw. In der Zeit von 1768 bis zum Ausbruch der französischen Revolution hat er oftmals im Mittelpunkt der kulturgeschichtlichen Diskussion in Deutschland und Frankreich gestanden, meist im schärfsten Feuer der Kritik. Seine Schriften werden in alle Kultursprachen übersetzt bzw. in Auszügen verbreitet. Das Journal des Scavans102 füllt mehrere Nummern mit Widerlegungen aus. Die Académie des Inscriptions et Belles Lettres, deren Hauptrepräsentant freilich persönlich herausgefordert war, hat mindestens in drei Sitzungen103 gegen ihn gefochten. Das Jahr 1776 bringt den Zenith des Ruhmes. Dann folgt ganz allmählich ein Verblassen und Versinken.“104
Auch andere Debatten und Fragen, z. B. die nach der Ursache der schwarzen Hautfarbe, haben die Gemüter beschäftigt.105 Voltaire, Kant, Montesquieu, Hume und weitere Autoren haben auf bestimmte, etwa religiös, schwärmerisch oder sonstwie willkürliche Hypothesen mitunter dadurch reagiert, dass sie kurze, nicht weiter explizierte Passagen in ihre Texte integrieren, die in Ton und Inhalt von ihrer jeweiligen Schrift insgesamt abweichen. Voltaire schreibt etwa in der Einleitung des Essai sur les mœurs, im 2. Abschnitt: „Il n’est permis qu’à un aveugle de douter que les Blancs, les Nègres, les Albinos, les Hottentots, les Lapons, les Chinois, les Américains, soient des races entièrement différentes“ – es sei nur einem Blinden gestattet, anzuzweifeln, dass diese alle völlig verschiedene Rassen seien.106 Das ist doch keine inhaltlich eindeutige Aussage; das ruft doch die Frage hervor: Ja, wer ist denn derjenige, der es gestattet? Abgesehen von der indirekt problematisierten rein optischen Evidenz dieser Einteilungen geht es auch um die Autoritäten oder Instanzen, die für die Beurteilung zuständig sind oder sein können; und weil dieser Satz mehrere Themen und Bedeutungsebenen hat, ist eben überhaupt nicht klar, ob seine Aussage ‚stimmt‘ oder ob er Voltaires ‚Meinung‘ wiedergibt.
Voltaires Satz kann oder: sollte man als eine ironische Spitze gegen eine Passage im Artikel ‚Negre‘ der Encyclopédie lesen.107 Im ersten Abschnitt (76-79), verfasst von Samuel Formey (zu der Zeit bereits Sekretär der Akademie in Berlin), wird die Frage, ob die verschiedenen Menschen auf der Welt von derselben Mutter abstammen, lapidar kommentiert mit: „Il ne nous est pas permis d’en douter“ (77) – es ist uns nicht gestattet, das anzuzweifeln. Nun, das ist ja ganz offensichtlich Auslegungssache; Formey argumentiert jedenfalls durchgängig mit äußerlichen Merkmalen, aus denen man ableiten könne, dass es verschiedene Sorten von Menschen („espece d’hommes“) gäbe. Fazit hier und anderswo: Voltaire kippt eben gern seinen Spott über Inkonsistenzen und Selbstwidersprüche der Autoren oder Autoritäten, und immer ist seine Idee, die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen an die erste Stelle zu rücken – anhand teils doppelbödiger Rhetorik, zugegeben. Da polemisiert er auch schon mal gegen Konzepte von Auserwähltheit und andere Formen des Privilegiendenkens.
Aufschlüsselungen indirekter Erörterungen muss man als LeserIn selbst anstellen, bei Voltaire, bei Montesquieu, Kant und anderen Autoren, wannimmer man auf irritierende Einfügungen solcher oder ähnlicher Art stößt.
Montesquieu beginnt seine Ausführungen über Sklaverei108 mit der ‚bürgerlichen Sklaverei‘ (l’esclavage civil) als Gegenbegriff zum Prinzip bürgerlicher Gleichheit. Sklaverei als vollumfängliche Aneignung eines anderen Menschen sei gegen den Geist jeder Verfassung und gegen alle Sittlichkeit. Im 2. Kapitel widerlegt er, dass Kriegsgefangene versklavt und Schuldner ihren Gläubigern verkauft werden dürften. Im Anschluss untersucht er hypothetische Rechtfertigungen der Sklaverei. Es folgen Kapitel, die eingeleitet werden mit ‚ich würde gern sagen, dass‘; ‚ich hätte Lust zu behaupten, dass‘, ‚wenn ich das Recht Sklaven zu halten, verteidigen müsste‘. Im Zuge dessen prangert er die Verachtung gegen andere Kulturen an sowie die Unterwerfung als Druckmittel der missionarischen Bekehrung; in beiden Fällen bezieht er sich konkret auf die Verbrechen der europäischen Invasoren in Amerika. Bevor im 9. Kapitel der Spannungsbogen geschlossen wird, indem Montesquieu festhält, von den Verfechtern der Sklaverei würde sicher niemand „darum würde loosen wollen, wer von ihnen [selbst] frey bleiben, und wer Sklav werden sollte“ (Montesquieu 1782, 103), steigert der Autor sich im ebenfalls als hypothetisch ausgewiesenen 5. Kapitel, das von der Sklaverei schwarzer Menschen handelt, in neun Absätzen (1-9) in eine vielschichtige Satire hinein. „Da die Europäer die Amerikaner ausgerottet hatten, so haben sie die Afrikaner zu Sklaven machen müssen“, damit die ganze Arbeit zu schaffen wäre (1). „Der Zucker würde zu theuer seyn, wenn man nicht das Zuckerrohr durch Sklaven warten und bearbeiten ließe.“ (2). Diese seien „schwarz vom Haupt bis zum Fuß“; wegen der Form ihrer Nase sei es „fast unmöglich, sie zu bedauern“ (3). Man könne sich nicht vorstellen, Gott als höchstweises Wesen habe einen schwarzen Körper mit einer Seele versehen, oder sogar mit einer guten (4). Es sei ja so natürlich zu denken: die Farbe mache das Wesen des Menschen aus, dass eben die orientalischen Völker, die die Eunuchen machten, den schwarzen Männern das entfernten, was sie mit den weißen gemeinsam hätten, nur in einer markanteren Form (5). Auch die Ägypter, „die besten Philosophen von der Welt“, hätten wegen der Farbe (dieses Mal der Haare) „alle rothaarigen Leute, die ihnen in die Hände fielen“, umgebracht (6). Ein Beweis, dass schwarze Menschen keinen Menschenverstand hätten, sei, dass ihnen Glasperlen mehr bedeuteten als Gold, das unter zivilisierten Nationen so wichtig sei (7). „Wir können unmöglich diese Leute als Menschen betrachten; weil man, wenn wir sie für Menschen hielten, auf die Gedanken kommen würde, wir selbst wären keine Christen“ (8). Schließlich heißt es, kleine Geister machten von dem Unrecht, das den Afrikanern zugefügt werde, zu viel Aufhebens. Wäre es so groß, wie sie behaupten, hätten ja die Regenten (Europas) aus Gründen der Erbarmung und des Mitleids (als Christen) etwas dagegen unternommen (9).109
Bei jedem dieser Sätze sind es indirekt die Europäer, die ihre Mordlust (1), ihre Gier nach Luxus (2), ihre Dummheit (3; 5), ihre religiöse Borniertheit (4; 8), ihre intellektuelle Borniertheit (6), ihren Dünkel (7) sowie ihre Bigotterie (9) vorgehalten bekommen. Die angeblich so wichtige Eigenschaft der Hautfarbe wird – über den Weg der Satire – desavouiert; die Konventionen des Zahlungsverkehrs (Glasperlen bzw. Gold) werden in gewisser Weise als gleichwertig ausgewiesen, nur, da man ja weiß, dass das Gold an den in (1) gemeinten Verbrechen Schuld ist, resultiert mit Blick auf moralische Aspekte, so würde ich sagen, eine Höherwertigkeit der afrikanischen Kultur. Europäer werden ihren Taten nach (1) und ihren geistigen Vorbildern nach (6) als Verbrecher entlarvt; das, was sie von ihrem Gott und seiner Seelenvergabe in andersfarbige Körper meinen, wird durch indirekten Nachweis ihrer Gottlosigkeit (8; 9) letztlich für nichtig erklärt. In der aktuell erhältlichen deutschen Reclam-Ausgabe des Werkes ist dieses Kapitel übrigens nicht enthalten.
Kant spielt nun in Beobachtungen durch einen ziemlich deutlichen Bezug („vom Kopf bis auf die Füße ganz schwarz“)110 auf dieses 5. Kapitel des 15. Buches an (bei Montesquieu: „noirs depuis les pieds jusqu’à la tête“).111 Bei Montesquieu sind Hautfarbe, Nasenform, Menschenverstand, usw., wie skizziert, klar in eine Satire eingebettet. Bei Kant wird mit Montesquieus Satire ein bedenkenswertes Statement eines schwarzen Mannes112 über den Umgang mit Frauen abgelehnt.113 Wenn mit einer durch mehrschichtige Satire bereits als Blödsinn entlarvten Zuschreibung etwas begründet oder verworfen werden soll, weist sich das Verfahren selbst als unsinnig (also ‚dumm‘) aus.
Beobachtungen enthalten auch an anderen Stellen Überraschungen. Sie ist eine der Schriften Kants, die man philosophisch gesehen für zweit- oder drittrangig hält. Rhetorische Charakteristika seiner frühen Schriften sind leider bislang nur dort thematisiert worden, wo sie überdeutlich ins Auge springen bzw. wo Kant selbst etwa in Briefen darüber spricht (z. B. betrifft das die Schrift Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik, 1766).
In Beobachtungen jedenfalls kommt mehrfach das Attribut „läppisch“ (das bedeutet soviel wie ‚kindisch‘) zum Einsatz. Kant bezeichnet damit das „Gefühl des Schönen“, insofern man dabei „das Edle“ vermisse,114 und er verpasst das Etikett anakreontischen Gedichten (215), einem grundsatzlosen Handeln (217), den Sanguinikern (222), überreinlichen Männern (234), Männern, die zuviel in weiblicher Gesellschaft sind (241), den Franzosen (247), den Chinesen (252), den Schwarzafrikanern und ihrem „Götzendienst“ (253), der Gotik und dem Rittertum (255), sowie, in anderen Texten, den Hochmütigen115 oder tatleerem Handeln.116 Die Attribuierung afrikanischer Menschen erhält aber von all diesen Stellen das größte Gewicht, weil sie kombiniert wird mit einer längeren Passage, die Hume’s Fußnote aus Of National Characters117 wiedergibt, und weil es wirkt, als wolle (auch) Kant bestimmten Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe Talent, Genie oder Potential absprechen und Menschen anderer Hautfarbe alles dieses zusprechen. Zur fraglichen Zeit der Abfassung von Beobachtungen gab es übrigens noch keine deutsche Übersetzung dieser Fußnote118 – dies zur Information allen, die davon ausgehen, Kant habe kein Englisch verstehen oder lesen können (was in keinster Weise bewiesen ist).
Meines Erachtens gibt es bereits bei Hume Schlüssel-Ausdrücke, mit denen er signalisiert, dass eine Dechiffrierung seiner Fußnote nötig ist und Hinweise für die Enttarnung als Satire liefert. So würde ich Anfang und Ende der Fußnote als Rahmen verstehen, der eine Doppelbödigkeit relativ deutlich anzeigt. Das „apt to suspect“ würde ich als einen Bezug auf Shaftesbury’s Karikatur des Philosophen im Soliloquy (289 f.)119 werten (weil das ‚apt to suspect‘ ein meinen Recherchen zufolge sehr seltener Ausdruck vor 1753 ist), und den Papagei am Ende der Fußnote sehe ich als klaren Hinweis auf Satire, denn jeder belesene Zeitgenosse muss hier sofort die überall in Europa bekannte böse Karikatur des Papstes (als Papagei) aus Rabelais‘ bekanntem Romanzyklus120 erkannt haben. Innerhalb dieser vorgegebenen Tonart lese ich dann die Kontrastierung von „ingenious manufactures“ (zu finden z. B. in einer Historie Deutschlands von 1690121) mit „the most rude and barbarous of the whites, such as the ancient GERMANS“, beides zusammen resultierend in der Feststellung „Such a uniform and constant difference could not happen, in so many countries and ages, if nature had not made an original distinction between these breeds of men“, als ironische Zusammenstellung von Behauptungen, die einander gegenseitig aushebeln, so dass die Behauptung von seitens der Natur geschaffenen, immerwährenden Kontrasten oder Über- und Unterordnungen der menschlichen Gesellschaften oder Nationen indirekt als Unfug entschlüsselbar wird.
Kant komponiert in sein Kapitel über die Nationalcharaktere in Beobachtungen mit der Bezugnahme auf Hume indirekt und augenzwinkernd ein, dass Nationalcharaktere zu erörtern letztlich unsinnig sei. Er präsentiert seinerseits in dieser Passage (253) bzw. diesem Kapitel zwei verschränkte Anwendungen von satirisch einander aushebelnden Begriffen: die erste betrifft die Konfusion von Natur und Kultur. Der Absatz steigt ein mit der Behauptung, afrikanische Menschen hätten „von Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege“, sie hätten keine „Talente“ und seien in „Kunst oder Wissenschaft“ nicht hervorgetreten, auch nicht in einer „andern rühmlichen Eigenschaft“ – an dieser Stelle ist die begriffliche Falle fertig aufgebaut: Kunst oder Wissenschaft sind natürlich kulturelle Errungenschaften, für die ein organisierter Verbund menschlicher Aktivität nötig ist; keinesfalls kann hier die Natur, oder ein von der Natur angelegtes Talent oder eine Eigenschaft verantwortlich zeichnen. Man darf dann als LeserIn in besagte Falle hineintappen, wenn es weiter heißt: „unter den Weißen“ würden sich „beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben“ – auch das hängt natürlich primär davon ab, was die jeweilige Kultur, in der ein Einzelner lebt, zulässt bzw. fördert; ‚Pöbel‘ und ‚Ansehen‘ sind ja Ausdrücke, die nicht aus der Natur begründet oder definiert werden können, sondern nur im Rahmen von Kultur. Damit ist aber das Resultat eines ‚so wesentlichen‘ Unterschiedes zwischen „diesen zwey Menschengeschlechtern“ hinfällig, denn alle Kontraste verdanken sich hier eben nicht körperlichen Ausgangsbedingungen, sondern kulturellen.
Die zweite Satire deckt sich auf, wenn man weiterliest und zu der der Lächerlichkeit preisgegebenen Verehrung von Fetischen in afrikanischen Kulturen einige Seiten später die „Fratzen“ (255) des Christentums geliefert bekommt; alles habe sich da um Ritter- und Abenteurertum und Kreuzzüge gedreht, es habe „Mönche mit dem Meßbuch in einer und der Kriegsfahne in der andern Hand [gegeben], denen ganze Heere betrogener Schlachtopfer folgten, um in andern Himmelsgegenden und in einem heiligeren Boden ihre Gebeine verscharren zu lassen“ (255). Es seien Krieger geweiht und „durch feyerliche Gelübde zur Gewaltthätigkeit und Missethaten geheiligt“ worden (256) – schlimmer sicherlich, als eine Vogelfeder zu weihen.
Man kann bestimmt anmahnen, dass, um Menschen in Europa zum Nachdenken über ihre eigene Gesellschaft zu bringen, jetzt nicht unbedingt andere Kulturen verunglimpft werden müssen. Vonseiten solcher Kritik wird man vermutlich auch wenig Verständnis dafür entwickeln, dass der Text hier eben rhetorisch betrachtet alles dem zunächst verlachten Afrikaner verdankt, denn er ist es, der erst die nötige satirische Fallhöhe ermöglicht.
In dem Handbuch der Physischen Geographie, das Kant mit Unterstützung von F. Th. Rink 1802 veröffentlicht, finden sich vergleichbar satirische Stellen, teils gepaart mit karikierenden Elementen, und zwar in den §§ 37 und 43 des ersten, vor allem aber in den §§ 1-7 des zweiten Teils.122 Auch Humoriges liest man: Schwarze blieben „selbst in Virginien durch viele Generationen“ Schwarze,123 was auf den Bedeutungsaspekt der Jungfräulichkeit im Namen ‚Virginia‘ und die damit konnotierte weiße Farbe anspielt.
3. Sinn und Zweck des Einbezugs des Fremden – Der ‚Wilde‘ im kantischen Druckwerk
Kant nutzt mit dem ‚Wilden‘ den begrifflichen Widerspruch zwischen Naturzustand und Gesellschaft zum Zweck der Kritik und des Tadels an der eigenen Kultur, was aber nicht unbedingt beim ersten Lesen auffällt. Dieser Tadel hat mehrere Stoßrichtungen: Zum einen geht es um die Rohheit und die Kriege in bürgerlichen Gesellschaften, durch die Vieles, was zivile Gesellschaften zumindest auf dem Papier auszeichnet, als Lüge enttarnt wird. Zum zweiten geht es um mit dieser Rohheit verbundene Vorstellungen von ‚Ehre‘ und ‚Tapferkeit‘. Und schließlich wird das schändliche Vorgehen und die ungeheure Niedertracht und Brutalität europäischer Invasoren in der ‚Neuen Welt‘ verurteilt.
Eingeführt wird ‚der Wilde‘ in Beobachtungen: „Unter allen Wilden ist keine Völkerschaft, welche einen so erhabenen Gemüthscharakter an sich zeigte, als die von Nordamerika. Sie haben ein starkes Gefühl für Ehre [...]. Der canadische Wilde ist übrigens wahrhaft und redlich [...]. Er ist äußerst stolz, empfindet den ganzen Werth der Freyheit [...]“.124 Daran schließt sich ohne Überleitung die Figur des Lykurg an, des fiktiven Gesetzgebers Spartas. Dieser habe wohl „eben dergleichen Wilden Gesetze gegeben“. Kant führt den Gedanken bis zu einer möglichen ‚spartanischen Republik‘ in Amerika weiter, bevor er nachlegt, die Argonauten mit den ‚Indianern‘ gleichsetzt und feststellt: „Alle diese Wilde haben wenig Gefühl für das Schöne im moralischen Verstande, und die großmüthige Vergebung einer Beleidigung, die zugleich edel und schön ist, ist als Tugend unter den Wilden völlig unbekannt, sondern wird wie eine elende Feigheit verachtet. Tapferkeit ist das größte Verdienst des Wilden und Rache seine süßeste Wollust.“125 Nun ist es ja so: Großmütiges Vergeben einer Beleidigung, hier bei Kant angeblich edel und schön, hat im Europa des eifrigen Duellierens und Kriegführens niemand angestrebt. Die Kritik Kants an Vorbildern wie den Spartanern oder den griechischen Helden wird erst erkennbar, wenn man die Doppelbödigkeit der Zuschreibung ‚die Wilden‘ sieht, und das funktioniert nur, wenn man den realen Zustand der Gesellschaften in Europa einbezieht.126 Wie Montaigne, Voltaire und andere vordergründig Schreckliches (etwa Kannibalismus) aus anderen Kulturen thematisieren, um indirekt satirisch europäische Grausamkeiten zu kritisieren,127 so verfährt also auch Kant, auch an anderen, späteren Stellen.128
In Kants Schriften findet sich auch geradeheraus geäußerter Tadel, für den die Analogie zwischen Wilden und der zivilen Welt eingesetzt wird, zuerst 1793,129 dann 1795130 und 1797: Streitigkeiten sollte man „auf civile Art, gleichsam durch einen Proceß, nicht auf barbarische (nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg“ entscheiden.131
Neben der Verurteilung des Kriegführens scheint Kant auch dafür sorgen zu wollen, dass indigene Völker Nordamerikas und ihr angebliches Aushalten von Schmerzen in der Soldatenkultur Preußens nicht zum Vorbild avancieren, weshalb er ihre ‚Unempfindlichkeit‘ und stoische Gemütskälte mehrfach im Druckwerk und auch etliche Male in den Vorlesungen kritisch thematisiert; andererseits würdigt er sie auch in verschiedener Weise (s.u.).
Der ‚Wilde‘ wird in Kants Werk auch gemäß Rousseauischem Ideal eingesetzt: als ein den moralischen Verwahrlosungen bürgerlicher Kultur eben nicht ausgesetzter und so gesehen ‚freier‘ Mensch;132 sodann wird damit eine Lebensform codiert, in der jemand vereinzelt, auf sich gestellt, ‚gesetzlos‘133 ist und keine Teilhabe an Vorzügen der durch Recht und Gesetz geregelten menschlichen Gesellschaften hat.134 Drittens betont Kant, dass Menschen, die näher an der Natur lebten und aufwüchsen, die ‚cultivierten Menschen‘ in Fähigkeiten wie der ‚feineren Witterung‘,135 dem schnellen Laufen und scharfen Sehen weit überträfen.136
In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht wird die ironische Analogie poetologisch gewendet: „Wer sich immer nur symbolisch ausdrücken kann“, dem fehle es an Begriffen des Verstandes; die oft bewunderte lebhafte Darstellung der „Wilden“ in ihren Reden sei „nichts als Armuth an Begriffen“, und so hätten auch „die alten Gesänge vom Homer an bis zum Ossian, oder von einem Orpheus bis zu den Propheten das Glänzende ihres Vortrags bloß dem Mangel an Mitteln, ihre Begriffe auszudrücken, zu verdanken“;137 eine sehr lustige Wendung in der Gedankenführung, denn Kant selbst hat zumindest Homer sehr hoch geschätzt.
Der ‚Wilde‘ ist also ein im weitesten Sinne im Naturzustand lebender Mensch,138 und Kant hält im Druckwerk dessen Bereich und den Bereich organisierter Gesellschaftsformen präzise auseinander. Es gibt im Druckwerk nur genau eine Stelle, an der die ‚Wilden‘ mit dem Begriff der ‚Nation‘ verknüpft sind.139 Nirgends ist von ‚Völkern (Volk) der Wilden‘ die Rede. Im Ganzen findet sich nur viermal der Ausdruck ‚wilde Nationen‘.140 Quantitativ stehen diese Befunde der Verwendung von ‚Volk‘ oder ‚Völker(n) in insgesamt 555 Fällen und der Verwendung von ‚Nation‘ oder ‚Nationen‘ in insgesamt 68 Fällen gegenüber. Auch der Ausdruck ‚Völkerschaft(en)‘ wird im Druckwerk, wo er 25mal zu finden ist, abgesehen von drei Stellen141 stets auf staatliche Gebilde oder Gesellschaftsformen gemünzt, nicht auf Menschen im Naturzustand. Um diese drei Stellen geht es im Folgenden.
Zweimal wird ‚Völkerschaft‘, m. E. zum Zweck der Würdigung und Anerkennung, auf die indigene Bevölkerung Kanadas appliziert;142 die dritte Stelle143 ist m. E. klar als Passage ausweisbar, in der uneigentliche Rede zum Zweck der satirischen Verdrehung der Perspektive und damit letztlich zu scharfer Kritik an Europäern eingesetzt wird. Diese Stelle ist diejenige, die beim Lesen am stärksten erschüttert und die sicher am meisten dazu beigetragen hat, dass man Kant zum Rassisten erklärt hat. Sie lautet: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften“.
Um die behauptete Doppelbödigkeit zu plausibilisieren, wäre zunächst darauf hinzuweisen, dass Kant das widerrechtliche Vorgehen spanischer Invasoren in Südamerika klar als solches anprangert: Man habe sich zu fragen, ob mit dem Ziel, Menschen anderer Kulturen bzw. „Wilde“ „in einen rechtlichen Zustand zu versetzen (wie etwa die amerikanischen Wilden, die Hottentotten, die Neuholländer)“, es wirklich rechtens sein kann, „mit Gewalt, oder (welches nicht viel besser ist) durch betrügerischen Kauf Colonien zu errichten und so Eigenthumer ihres Bodens zu werden und ohne Rücksicht auf ihren ersten Besitz Gebrauch von [...] [der eigenen] Ueberlegenheit“ zu machen. Antwort: „Allein man sieht durch diesen Schleier der Ungerechtigkeit (Jesuitism), alle Mittel zu guten Zwecken zu billigen, leicht durch; diese Art der Erwerbung des Bodens ist also verwerflich.“144
Mit diesem Wissen kann man zunächst eine andere, ebenfalls doppelbödige Stelle besser verstehen. Kant schreibt von den „sehr“ wilden Einwohnern des heutigen Australiens, das „allein fast so groß ist als Europa: Sie wollten „nicht einmal wie andere Wilde Spielsachen und rothes Tuch annehmen. Welche Schwierigkeiten, zu einer genauern Kenntniß des Innern zu gelangen, wenn der Erfindungsgeist der Europäer nicht andere Mittel zu diesem Ziele ausfindig gemacht hätte! Ueberhaupt befinden sich die Nationen der südlichen Hemisphäre auf der niedrigsten Stufe der Menschheit, und sie haben an nichts weiter ein Interesse als an dem sinnlichen Genusse. Die Wilden im Norden, ob sie gleich noch weiter gegen den Pol hin wohnen, verrathen bey weitem mehr Talente und Adresse.“145
Hier stehen ‚die Europäer‘ in guter semantischer Erreichbarkeit des Folgesatzes, der das vernichtende Urteil bringt. Der Hinweis, dass ‚Wilde‘ bei Kant begrifflich nicht mit ‚Nationen‘ in Zusammenhang gebracht werden können, ist daher hier vielleicht gar nicht nötig. Das vernichtende Urteil erstreckt sich im Übrigen durch die geographische Angabe „der südlichen Hemisphäre“ auf die sich unrechtmäßiger Weise ansiedelnden Europäer auf allen Kontinenten dieser Halbkugel.
Diese auf der niedrigsten Stufe der Menschheit stehenden Europäer werden hier des Weiteren so beschrieben: Sie hätten „an nichts weiter ein Interesse als an dem sinnlichen Genusse“, was einige Seiten später aufgenommen wird, wo es um „einen jungen gebildeten Isländer [geht], dessen Verlangen nach seinem armseligen Vaterlande in eben dem Verhältnisse sehnlicher war, je rauschender die Vergnügungen und Zerstreuungen“ in London waren. „So war der Wunsch in ihre Heimath zurückzukehren bey allen denjenigen vorzüglich stark, die man als Außer-Europäer oder sogenannte Wilde mitten in den sinnlichsten Genuß unsers Erdtheiles einführte. Selbst von dem als Negerknabe geraubten, in Holland durch seine Gelehrsamkeit berühmt gewordenen Capitän ist es sehr wahrscheinlich, daß die Sehnsucht nach seiner Heimath ihn in Europa unsichtbar machte.“146
Mit diesen Erläuterungen wird die besagte problematische Stelle in der Physischen Geographie (316) besser verständlich. Hier wird ein ähnlicher rhetorischer Kniff angewandt wie in Beobachtungen. Die satirische Fallhöhe wird durch die ‚Vollkommenheit der Race der Weißen‘ erzeugt, die scheinbar durch die farblichen Abstufungen untermauert wird, um dann den den Leser in seinem Dünkel und seinen Vorurteilen entlarvenden Hieb zu setzen: Die, die am tiefsten stehen, sind die Europäer, die sich durch die Neue Welt mordeten.
Es geht mit dieser Art von Satire weiter: „Der Einwohner des gemäßigten Erdstriches, vornehmlich des mittleren Theiles desselben ist schöner an Körper, arbeitsamer, scherzhafter, gemäßigter in seinen Leidenschaften, verständiger als irgend eine andere Gattung der Menschen in der Welt. Daher haben diese Völker zu allen Zeiten die anderen belehrt und durch die Waffen bezwungen. Die Römer, die Griechen, die alten nordischen Völker, Dschingischan, die Türken, Tamerlan, die Europäer nach Columbus‘ Entdeckungen haben alle südlichen Länder durch ihre Künste und Waffen in Erstaunen gesetzt.“147 Kant kontrastiert auch hier in zwei Anläufen überheblich-positive Beschreibungen mit dem Überraschungsmoment der Verwerflichkeit: zuerst folgt auf die Liste der Attribute ein – überraschender – kausaler Hauptsatz „Daher haben [...] bezwungen.“ Warum sollten denn diese Menschen angesichts ihrer gepriesenen gemäßigten und verständigen Art andere Menschen mit Waffen bezwingen? Dieser Kontrast hebelt alles Vorige aus oder rückt es doch jedenfalls in ein Licht außerordentlicher Zweifelhaftigkeit. Kant legt nach und benennt die Aggressoren konkret, und wem noch nicht deutlich geworden, dass die angebliche Hochkultur der Römer und Griechen, ebenso die expandierenden (und in der ‚Neuen Welt‘ alles Indigene abschlachtenden) Europäer hier zu den Aggressoren gerechnet werden, der bedenke die Durchmischung ihrer Auflistung mit den Namen ‚Dschingis Khan‘ und ‚Tamerlan‘. Die Krone subtiler Ironie erhält dieser Passus am Schluss mit dem verharmlosenden „in Erstaunen gesetzt“.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass alle skizzierten Passagen eine Pointe haben und doppelbödig komponiert sind, und zwar zum Zweck der Kritik an den Zuständen in Europa oder in den von Europäern besetzten Regionen. Es geht darum, bestimmte Ideale griechischen oder römischen oder mittelalterlichen Denkens zu desavouieren, das unzivilisierte Handeln angeblich zivilisierter Menschen bloßzustellen, Hochmut und Dünkel zu enttarnen und auf die Kriminalität der Kirche und die Gier europäischer Regenten hinzuweisen. Die Charakterisierungen der ‚Wilden‘ oder ‚Peruaner‘ oder ‚Schwarzen‘ sind zu satirischen Zwecken teils sehr unangemessen und abwertend formuliert.
4. Kants diskursive Methode
Die bei Kant aufgenommenen Informationen stammen von anderen Autoren, aus Reiseberichten, Berichten von in anderen Ländern zeitweise ansässigen Personen, aus naturphilosophischen Traktaten oder anderen Schriften. Das reicht teils weit in antike Zusammenhänge zurück. Kant nimmt Fragen nach verschiedenen Ethnien und Kulturen in verschiedenen Klimazonen auf, weil sie – als zur Anthropologie und zur Physischen Geographie gehörig – innerhalb seines philosophischen Systems beantwortet werden müssen.
Das diskursive Vorgehen im Gesamtwerk bei Kant stellt sich, für alle Bereiche der Metaphysik, so dar, dass zunächst Ansätze, Begriffe und Inhalte erwogen und geprüft werden, teils dadurch, dass sie direkt einander gegenübergestellt werden, was das etwas Schillernde in einigen früheren Schriften Kants erklärt, zumal Kant dieses Vorgehen nicht immer explizit zu erkennen gibt. Dem Beitrag von 1775 schickt er allerdings voran, die vorgelegte Untersuchung werde „zwar etwas vor [= für] den Verstand, aber mehr wie ein Spiel desselben, als eine tiefe Nachforschung enthalten“.148
Bei Kant werden in den Aufsätzen von 1775 und 1785 theoretische Überlegungen in Analogie zu Tieren oder Gewächsen und ihren Gattungen, Arten, Stämmen auf den Menschen übertragen,149 und so wird 1775 auch der Racebegriff eingeführt.150 Zur ‚Race der Weißen‘ rechnet Kant neben den Europäern die Mohren, die Araber, türkisch-tatarische Völker, die Perser sowie alle übrigen Völker Asiens. Daneben thematisiert er die Schwarzen (Senegambias), die Nordamerikaner, die Inder und die Nordländer. Wie oben kurz skizziert, verbanden sich diese Einteilungen in den Debatten der Zeit immer auch mit naturhistorischen oder naturphilosophischen Fragen. So hätte man z. B. gern gewusst, womit die tiefschwarze Hautfarbe von in Afrika beheimateten Menschen physikalisch oder chemisch zusammenhängt.
Kant unterstreicht die mit den Einteilungen verbundene nicht hinreichende Gewissheit der Theorie. Er schreibt: Dies alles seien „Muthmaßungen, die wenigstens Grund genug haben, um andern Muthmaßungen die Wage zu halten, welche die Verschiedenheiten der Menschengattung so unvereinbar finden, daß sie deshalb lieber viele Localschöpfungen annehmen“.151 Mit Voltaire simple (aber lustige) Zweckmäßigkeiten in der Natur zu behaupten (wie: dass Gott den Lappen schuf, damit jemand das Rentier esse), helfe philosophisch gesehen nicht weiter; möglicherweise könnte man mit Hilfe der Chemie zu besseren Resultaten kommen.
Zur Betonung der Unsicherheiten in der Theoriebildung dient auch die bei Kant generell häufig angewandte Strategie der direkten und indirekten Irritation des Lesers und der Leserin. Der Text von 1775 irritiert in mehrfacher Hinsicht; neben den Dissonanzen, die aus dem Grundsatz methodologischer Vorsicht und der dann doch angewandten Hopplahopp-Theoriebildung (z. B. über die angebliche Ursprungsgattung) resultieren, finden sich inhaltliche Gegensätze, z. B. darin, dass zunächst von vier Racen: weiße, schwarze, hunnische und hindistanische, die Rede ist,152 später aber dann, abweichend, von diesen vier: weiße, rote, schwarze, olivengelbe (mit entsprechenden weiteren zugeordneten Merkmalen). Aus diesen letztgenannten hätte sich ja die in der ersten Liste enthaltene hunnische gar nicht entwickeln können, jedenfalls nicht nach der zuvor präsentierten ‚Theorie‘. Damit ist doch aber für einen aufmerksamen Leser und eine aufmerksame Leserin klar, dass das Verhandelte hypothetisch bleibt und mindestens unabgeschlossen ist.
Völlig unbegründet ist auch der folgende Schritt: Man nehme zeitgenössisch an, dass die Farben von Pflanzen und Tieren mit der Wirkung des Eisens in ihren ‚Säften‘ zusammenhängt (z. B. damit, ob es gelöst oder nicht gelöst ist); in Analogie zu Tieren und ihrem Blut könne man auch für Menschen Theorien über den Zusammenhang mit der Hautfarbe entwickeln. Und nun kommt die Zumutung: „In dem Geschlechte der Weißen würde aber dieses in den Säften aufgelösete Eisen gar nicht niedergeschlagen und dadurch zugleich die vollkommene Mischung der Säfte und Stärke dieses Menschenschlags vor den übrigen bewiesen“.153 Natürlich wird das dadurch in keinster Weise ‚bewiesen‘, und die Irritation in dieser ‚Herleitung‘ kündigt sich ja auch bereits dadurch an, dass die zuvor sauber bestimmten Begriffe hier entweder gar keine Anwendung finden oder völlig durcheinander geraten sind (‚Geschlecht‘ statt ‚Rasse‘; ‚Menschenschlag‘ statt ‚Rasse‘). Ganz in Entsprechung zu seinem skeptisch-ironischen Vorgehen in anderen Schriften (z. B. der Schrift über die Gegenden im Raume) schickt Kant hier mit einem Augenzwinkern nach: „Doch dieses ist nur eine flüchtige Anreizung zur Untersuchung in einem Felde, worin ich zu fremd bin, um mit einigem Zutraun auch nur Muthmaßungen zu wagen“.154
Direkt im Anschluss folgt nun (erst 1777 eingefügt) die erstaunliche Feststellung, dass man zwar die Ursprungs- oder Stammgattung aller verschiedenen phänotypischen Ausprägungen nicht kennen könne, da sie ja in der Zeit weit zurückliege, aber dass man gleichwohl einfach mal davon ausgehe, dass der Ursprung beim Phänotyp des brünetten Menschen mit weißer Hautfarbe liege. Daraus wären blonde weiße Menschen, Menschen mit kupferroter Hautfarbe, sodann Menschen mit schwarzer Hautfarbe sowie Menschen mit ‚olivengelber‘ Hautfarbe hervorgegangen.155 Beigeordnete Hypothesen werden genannt; sie betreffen vornehmlich die geographische Distanz, z. B. durch die vormalige Trennung bestimmter Regionen durch Wasser, Meere, Ozeane, mit der man erklären könnte, warum keine Vermischung zwischen den verschiedenen Phänotypen stattgefunden hat.156
Kants diskursives dynamisch-skeptisches Verfahren bringt im Anschluss an eine hypothetische Argumentation die Lösung in Form von inhaltlichen Klärungen sowie methodenreflexiven Resultaten. Deshalb müssen die oben genannten Schriften von 1764, 1775, 1785 und 1788 unbedingt im Lichte der Critik der Urtheilskraft gelesen werden – wenn man die Irritationen und Rätsel des Autors von der Auflösung her verstehen möchte. Auf diese dritte Critik weist der Beitrag von 1788 im Übrigen sehr klar voraus; etwa in der Erörterung des Begriffes einer Grundkraft, eines organisirten Wesens und den Grenzen zweckursächlicher Erklärungen: „Wir kennen aber dergleichen Kräfte [...] durch Erfahrung nur in uns selbst, nämlich an unserem Verstande und Willen, als einer Ursache der Möglichkeit gewisser ganz nach Zwecken eingerichteter Producte, nämlich der Kunstwerke“.157 In der Critik der Urtheilskraft werden teleologische Aussagen methodisch einem Erkenntnisvermögen zugeordnet, für dessen vollständige Explikation man auf die reflektierende Urteilskraft, das Bewusstsein von einer im Subjektiven verbleibenden Gültigkeit bestimmter Aussagen oder auch: ihren hypothetischen Status für z. B. eine Modellbildung (in der Naturwissenschaft) rekurrieren muss. Mit dem zuvor schon benutzten, aber in der dritten Critik transzendentalphilosophisch begründeten methodischen Werkzeugkasten kann ein Anspruch auf Objektivität der Erkenntnis oder Theorie im Falle teleologischer Aussagen und Begründungen abgelehnt werden. Für teleologische Erklärungen der Welt, die man auf der Basis von Daten und Beschreibungen aufstellt, benötigt man eine Instanz, die die Zweckvorstellungen ersonnen hat und sie umzusetzen vermag: und das ist üblicherweise Gott oder die Natur (oder beides). Kant zeigt aber erkenntniskritisch, dass diese Instanz einzig das denkende Subjekt sein kann.
Weiter: Phänotypische Unterschiede zwischen Menschen in verschiedenen Regionen auf dem Globus haben bei Kant innerhalb der praktischen Philosophie und in den entlang menschlicher Freiheit und Autonomie argumentierenden Erörterungen grundsätzlich keinen Platz. Freiheit aus Freiheitswillen und Freiheitsbefähigung, Recht aus Anerkennung der Rechtlichkeit als Element der Freiheit: diese Ecksteine der Menschheit sollen sich ausgehend zunächst von der Abschaffung der Unfreiheit und Ungerechtigkeit in Europa in die ganze Welt fortsetzen. So lautet die Utopie des Zeitalters, und dieser utopische Zug seiner Philosophie kann einem auch bei Kant nicht entgehen, wenn man seine Schriften im Gesamtzusammenhang liest.
Diese utopische Ausrichtung verdeutlicht Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: „Die physiologische Menschenkenntniß geht auf die Erforschung dessen was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das was Er, als freyhandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll“.158 Somit ist alles Naturgegebene Teil der im Rahmen von Physik und Naturphilosophie erforschbaren theoretischen Kenntnis der Welt: „Daher wird selbst die Kenntniß der Menschenraςen, als zum Spiel der Natur gehörender Producte, noch nicht zur pragmatischen, sondern nur zur theoretischen Weltkenntniß gezählt.“159
5. Wie untersucht man Unterschiede zwischen Menschen auf dem Globus?
Kantische Philosophie, in ihrer anthropologischen und moralisch-praktischen Dimension, kann als eine vergangenheitsfrei begründete Theorie über das verstanden werden, was der Mensch aus sich selbst machen kann und soll, und all das kann grundsätzlich nicht in irgendeine denkbare Abhängigkeit von dem gesetzt werden, was Menschen ausmacht, insofern sie abhängig von den Bedingungen und Voraussetzungen der Natur und der Physiologie gedacht werden.
Der Mensch kann als Tier klassifiziert werden: bei Kant in den Texten, in denen der Rassebegriff untersucht wird. Kant kombiniert, wie Montesquieu, phänotypische Verschiedenheiten der Menschen mit den ihrem Lebensraum zugeordneten klimatischen Voraussetzungen (Feuchte/Trockenheit; Kälte/Hitze), der Idee folgend, dass es eine klimatische bzw. eine Habitatsabhängigkeit kultureller Eigenarten gibt. Kants Prinzip der Zeugungseinheit folgt der Theorie Buffons;160 die gemeinsame Fortpflanzungsfähigkeit dient ihm als Beleg für einen einzigen Menschenstamm. Das Methodenideal ist das der Naturwissenschaft; die genannten Unterschiede und Einteilungen weist Kant als Teil der naturwissenschaftlichen BESCHREIBUNG der Erde aus.
In seiner Rezension des zweiten Teils von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit schreibt Kant 1785, man könne aus Reiseberichten oder Länderbeschreibungen alles Mögliche herleiten, z. B. mit gleicher Evidenz die Erkenntnis, dass Männer bestimmter Völker keinen Bart haben, wie auch die Erkenntnis, sie hätten einen Bart, aber rupften ihn sich aus. Oder auch, mit derselben ‚Evidenz‘: „daß Amerikaner und Neger eine in Geistesanlagen unter die übrigen Glieder der Menschengattung gesunkene Race sind, andererseits aber nach eben so scheinbaren Nachrichten, daß sie hierin, was ihre Naturanlage betrifft, jedem andern Weltbewohner gleich zu schätzen sind, mithin dem Philosophen die Wahl bleibe, ob der Naturverschiedenheiten annehmen, oder alles nach dem Grundsatze tout comme chez nous beurtheilen will, dadurch denn alle seine über eine so wankende Grundlage errichtete Systeme den Anschein baufälliger Hypothesen bekommen müssen“.161 Hier scheint ein einteilungwütiger, kulturchauvinistischer Kant dem toleranten und liberalen Herder an den Kragen zu gehen. Aber ein genauerer Blick lohnt: ‚Geistesanlagen‘ kommt im Druckwerk bei Kant nur an dieser einzigen Stelle vor, das heißt, das Wort gehört nicht intrinsisch zum Werk, wird nirgends eingehender bearbeitet, sondern stattdessen durch einmalige Nennung indirekt als nutzlos markiert. Was gemeint ist, sind die den Menschen von Natur mitgegebenen Talente und Fähigkeiten, und die subsumiert Kant stets unter den Begriff ‚Naturanlagen‘. Es wird also nun die Frage gestellt, ob die Genannten „hierin [im Denken], was ihre Naturanlage betrifft, jedem anderen Weltbewohner gleich zu schätzen sind“. Also: können sie so gut denken wie alle? Können denn alle gleich gut denken? Nein, natürlich nicht. Wovon hängt denn das menschliche Denkenkönnen ab? Naja, unter der Voraussetzung, dass etwas vorhanden ist, das gefördert werden kann, hängt es in erster Linie davon ab, dass und wie es gefördert wird, und das ist niemals der Zuständigkeitsbereich der Natur, sondern immer der der Kultur. Die kulturellen Bedingungen sind in Afrika und Amerika aber völlig andere als in Europa (zum fraglichen Zeitpunkt). Auch in der Rezension von Herders Ideen würde ich also die fragliche Stelle als provokative begriffliche Kontrastierung (‚Denken‘ vs. ‚Naturanlage‘) lesen.
Bei Kant geht es 1785 gegen Herder und auch schon 1775/77 und auch 1788 um die Verteidigung der Einteilungen der Menschen gemäß Lebensraum. Warum? Schon in den Debatten und Texten der 1760er und 1770er Jahre wird klar, dass aus ganz gleich welcher Haltung, Hypothese oder Theorie letztlich jegliche Version wertender Anthropologie ableitbar ist. So sind die Verfemungen indigener Menschen bei De Pauw sein Grund, dafür zu plädieren, die armen, degenerierten Menschen müssten vor den bösen europäischen Eindringlingen beschützt werden. Das ist ja in gewisser Weise nett gemeint; andere aber nutzten solche Charakterisierungen zur Rechtfertigung der Sklaverei.
Das Remedium Kants: Eine wertende Anthropologie ist dadurch zu verhindern, dass man das Werten selbst verunmöglicht. Es sind naturwissenschaftlich-naturhistorische Gesetzmäßigkeiten auszumachen und auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Diese werden methodologisch durch die Untersuchung der reflektierenden Urteilskraft in der dritten Kritik als regulativ ausgewiesen, was bedeutet, sie gelten ausschließlich hypothetisch und können benutzt werden, um mit ihrer Hilfe die Beobachtungsdaten zu ordnen. Eine Übertragung in den Bereich der praktischen Philosophie ist nicht möglich. Soweit, so gut. Dann fragt man sich allerdings, warum sich bei Kant – im Gegensatz etwa zu Christoph Girtanners Schrift, der seine Sätze mittels einer bildreichen Sprache formuliert, ohne dass es irgendwo zu Abwertungen kommt162 – so viele unfreundliche oder despektierliche Beschreibungen von Menschen anderer Herkunft finden. Die auffallendsten sind die folgenden: Die „gepletschte Nase“163 in der Bedeutung von ‚breit gedrückter Nase‘. Laut Kant trage auch der gemeine Europäer eine solche Nase, anders als der Grieche, der die Nase in der Regel „in gerader Linie vor der Stirn gehabt“ habe.164 ‚Schwammichte Teile des Körpers‘165 sind ‚der Wasseraufnahme fähige‘ Teile. Der Ausdruck ist im Kontext der Beschreibung von Pflanzen, insbesondere Bäumen, üblich.166 Eine „dicke Stülpnase und Wurstlippen“167 findet sich ähnlich z. B. auch bei M. V. de La Croze,168 der von ‚breiten eingedruckten Nasen‘ schreibt und von ‚grossen dicken Wurstlippen‘.169 La Croze weist dies als Zitat aus Poncets Voiage d’Ethiopie aus,170 aber es ist natürlich seine eigene Übersetzung. Im kantischen Druckwerk kommt diese Beschreibung der Lippen im Ganzen dreimal vor, nämlich neben 1775 auch noch 1802 in der Physischen Geographie;171 Kant scheint sie bereits in den Vorlesungen der späten 1750er Jahre zu verwenden, und dort wie auch im Druckwerk ist sie nirgends in den Kontext ironischer Distanzierung eingebettet. Weiterhin liest man bei Kant, selten, schwarze Menschen sowie Mongolen „stinken“172 oder hätten einen ‚üblen Geruch‘.173 Auch in einer Dissertation, die in Teilen in die Encyclopédie174 aufgenommen wird (Artikel Negre), findet sich diese Zuschreibung,175 wobei behauptet wird, den Ausdünstungen der Galle durch die Poren der Haut verdanke sich „une odeur desagréable“ (ein unangenehmer Geruch).176 Als „feige“ im Sinne von ‚weichlich‘ bezeichnet Kant die Chinesen (378), die Einwohner der Molukken (389), die des Königreichs Whida (416 f.) sowie die Lappen (426); „träge“ seien alle „Bewohner der heißesten Zone“ (316), besonders die Peruaner (429).177
Zusammengenommen stellt man durchaus fest, dass diese Schilderungen nicht wertfrei sind. Ist dann also der Plan zu einer wertfreien Anthropologie bei Kant gescheitert? Ich denke: Nein, denn es darf nicht unterschlagen werden, dass Kant grundsätzlich trennt: den Bereich der Natur und Physiologie (menschlicher Körper) von dem der Freiheit, der Selbstkultivierung und kulturellen Entfaltung allgemein. Die fraglichen Aussagen sind alle primär auf Physiologisches bezogen. In manchen Regionen auf dem Globus sind die Bedingungen für die Zuständigkeit der transzendental begründeten Freiheit schlechter als anderswo; aber das ist dem Wandel der Zeiten unterworfen. So wie sich auch z. B. ein eher rohes Germanenvolk im Laufe der Jahrhunderte (aus Sicht der damaligen Zeit) zu kultureller Blüte entwickeln kann, ist das in die Zukunft hinein auch bei allen anderen Völkern und Stämmen auf der Erde möglich.
6. Die Verortung zwischen Physischer Geographie, Geschichtsphilosophie und Natur-Wissenschaft
Überlegungen zu Menschen anderer Kulturräume und Klimazonen, insbesondere zu Fragen ihrer Entwicklungsgeschichte, gehören traditionell der historia sacra zu. An die biblische Exegese koppelten sich sakralhistorische Erkenntnis- resp. Erzählversuche über die Natur, die darin lebenden Menschen und ihre Geschichte. Davon hat sich die Philosophie erst freischwimmen müssen, insbesondere als im Zuge der Gegenreformation „Tendenzen einer stärkeren Disziplinierung, ja Christianisierung der Philosophie“ zu Vorstellungen von einer „offenbarungsgestützten, biblizistischen Naturwissenschaft“ beitrugen. „Die neue Naturwissenschaft hat sich seit Bacon gegen dieses Prinzip, Naturerkenntnis aus der Bibel abzuleiten, entschieden zur Wehr gesetzt“.178 Die Betonung des naturwissenschaftlichen Methodenideals bei Kant liegt in dieser Tradition; er ergänzt es durch den methodologischen Aufweis seiner Grenzen und die gründliche Fundierung der praktischen Philosophie. Seine Schriften der späteren 80er und 90er Jahre arbeiten beides genauer aus und weisen als einzige Instanz, die berechtigt ist, beide Bereiche: den der Natur und den der Freiheit, miteinander zu verknüpfen, das denkende Subjekt aus (Critik der Urtheilskraft). Kants Vorgehen in Bezug auf die Einteilung des Menschenstammes gemäß Phänotypen und Lebensräumen in den 1780er Jahren ist methodologisch und historiographisch bereits bestens untersucht.179
Im Gesamtzusammenhang ordnet Kant die Frage nach der Bestimmung phänotypischer und kultureller Unterschiede zwischen Menschen auf dem Globus schließlich der Physischen Geographie zu. Die Edition von 1802 ist gewonnen aus dem Material seiner Vorlesungen, stellt aber durchaus ein eigenständig komponiertes Handbuch dar, ähnlich wie das zur Logik (1800) und das zur Pädagogik (1803). In diesem Handbuch betont er in den ersten Abschnitten der Einleitung: Innerhalb der ‚Weltkenntniß‘ gibt es den Menschen und die Natur, über die man Wissen erlangen kann. Nur die Vernunft kann die zur Unterscheidung beider nötigen Kriterien liefern. Die Vernunft sieht nicht auf geographische, politische oder kulturelle Verschiedenheiten, sondern auf das Entwicklungspotential im Sinne der PRAGMATISCHEN Deutung des Menschen und der Selbstformung hin zu freien, selbstdenkenden Individuen (s.o. das Zitat aus der Anthropologie). Physische Geographie leiste erst einmal nur Beschreibung;180 für eine Naturgeschichte im eigentlichen Sinne fehlten Kenntnisse über Daten und Veränderungen.
7. Die Agenda des Druckwerks ist nicht die der Vorlesungen – Menschenbilder in den Vorlesungen
In den Vorlesungsnachschriften zur Physischen Geographie sind die Schilderungen der Menschen und ihrer Gebräuche meistens neutral formuliert, aber es finden sich wertende Zuschreibungen, die teils sehr drastisch sind. Alle der auf 320 Seiten des Bandes 26/1 und 1150 Seiten des Bandes 26/2 der Akademie-Ausgabe, herausgegeben von Werner Stark,181 zu findenden entsprechenden Textstellen werden hier nun aufgelistet. Alle nicht erwähnten Passagen enthalten (aus meiner Sicht) weitgehend wertfreie Informationen über Ozeane, Länder, Erdgeschichte, Klimate, Flora, Fauna, Kultur, Glauben, Alltagsleben, Politik, Wirtschaft, Landwirtschaft, Wissenschaft und Handel.
In gemäßigten Breiten der Nordhalbkugel, rund um den Globus, fände man die schönsten Leute (Band 26/1, 86 f.). In Afrika haben die Menschen „schwarze Farbe“, wollige Haare, breite Gesichter, platte Nasen und „aufgeworfene Lippen“. Aus Senegambia kämen die schwärzesten aber auch die „schönsten von der Welt“ (87; auch 274), an „der Goldküste sind sehr schwarze und haben sehr dicke Wurstlippen“; in Abessinien stänken sie abscheulich (87). Alle Bewohner der heißesten Zone seien „ausnehmend faul“ (94); amerikanische Einwohner seien zaghaft sowie abergläubisch und eifersüchtig, ihre Geister schlaff (94), und sie seien sehr empfindsam und furchtsam (95). Nordländer seien ähnlich veranlagt, auch in der „Lust an starken Getränken“, nur eifersüchtig seien sie nicht, „weil ihr Clima nicht so starke Anreizungen zur Wollust hat“ (95). Hottentotten seien nicht zimperlich, „im Nothfall können getretene Schuhsohlen“ gegessen werden (101). Chinesen seien sehr gelassen und betrögen „ungemein künstlich“, schämten sich aber nicht dafür; sie seien rachgierig, feige, arbeitsam und spielten gern (200). „Niemand in China flucht oder schimpft“ (201). In Siam seien die Wissenschaften „schlecht“ (211). Einwohner der Nicobaren habe man zu Unrecht beschuldigt, dass sie „Menschenfleisch fressen“ (236). Die Einwohner Ceylons seien „braun von Farbe, aber nicht häßlich, sind beherzt munter und höflich, sanftmüthig sparsam aber starke Lügner“ (238). Türken in Syrien seien „wohl gestaltet, gastfrey, mildthätig gegen Arme und gegen Reisende“, der „Faulheit ergeben, könnten stundenlang beyeinander sitzen, ohne zu reden. Der Geitz ist ihr herrschend Laster. Sie sollen zwar keinen Wein trinken, aber man trinkt ihn doch heimlich“; sie spielten „nie um Geld“ (262). Die Georgianer seien schlechte Christen, „unkeusch, diebisch, versoffen“ (263). Hottentotten am Kap in Afrika hätten eine „ungeschickte aufgestützte Nase, und dicke Wurst-Lippen“, würden sehr alt und seien sehr schnell zu Fuß (264). Nachdem Gebräuche der Körperpflege, Festtagsgebräuche usw. recht abfällig geschildert werden, heißt es, sie hätten „viel natürlichen Witz und viel Geschicklichkeit“, seien „ehrlich und sehr keusch, auch gastfrey“ (265); dann folgen wieder distanzierte Beschreibungen über ihre Alltagskultur, „alles müsse nach Kuhmist riechen“, Läuse hätten sie reichlich. Die Frauen müssten arbeiten, während die Männer rauchen, saufen und ein bisschen jagen. Ihre Faulheit bringe sie oft in Not (266). Auf Madagaskar seien die Schwarzen „groß, hurtig“, die Frauen „schön und artig“ (270), im Königreich Munhumutapa seien die Einwohner schwarz, beherzt, schnell zu Fuß (271). In Congo seien die gelehrigsten Schwarzen überhaupt, aus ihnen würden „advocaten Richter Ärtzte“ usw. (272). In Senegambia werde große „Treulosigkeit mit Verkaufung der Sclaven begangen“; ein König stecke öfter die eigenen Dörfer in Brand, um Sklaven zu fangen und sich davon Branntwein zu kaufen; Eltern verkauften „ihre Kinder, und diese jene“ (274). Schwarze aus Sierra Leone stänken sehr (275). In den Ländern Westafrikas würden die wilden ‚Tiger‘ nur die Schwarzen, nicht die Europäer fressen (276). In Guinea seien die Schwarzen „nicht unangenehm gebildet“, hätten keine platten Nasen; sie seien stolz, aber sehr boshaft und diebisch (277). Im Königreich Whidah seien die Schwarzen arbeitsam, voller Komplimente, „die verschmitztesten Diebe in der ganzen Welt“ (280). Die Abessinier seien „witzig wohlgebildet“, ehrlich, „nicht zanksüchtig“; die Kaffer in Abessinien seien „so häßlich und dann auch so ungesittet und boßhaft“ wie die übrigen Schwarzen (287). Italiener seien eifersüchtig, rachgierig“ und kluge Politiker (291). Die Lappen in Schweden seien „faul und feige“ (296). Chile habe „muntere und kühne Einwohner“; Peruaner seien träge (301) und gleichgültig (302). Die Tapuya in Südamerika fräßen ihre Feinde (306). Völker im Norden Kanadas seien „leutselig und klug“ (309), weiter südlich laut den Franzosen „sehr abscheulich von Gesicht und wild und boßhaft von Sitten“, äßen in der Not Frau und Kinder (310). Die Algonquins und andere Völker Kanadas hätten „große Neigung zur Unabhängigkeit“; keinem von ihnen würde es einfallen, „die Lebensart der Europäer anzunehmen obzwar diese oft jene wählen“ (312). Auf den Inseln der Karibik seien viele Schwarze, die als Sklaven dienten, sie seien oft gefährlich, die vom Senegal seien die witzigsten; Kreolen seien geistreicher als ihre Väter; Schwarze aus Madagascar seien nicht zu bändigen (315); Schwarze aus dem Munhumutapa-Reich kämen bald um, seien meistens sehr dumm, „cachiren sich aber sehr künstlich; sind dabey hochmüthig“; die Karaiben sähen melancholisch aus, könnten nicht begreifen, wie man das Gold dem Glase vorziehen könne, seien träge, hätten Grillen und großen Stolz. In der Rache kennten sie keine Grenzen und Versöhnung sei ihnen unbekannt (316). –
Damit enden die Auszüge aus Band 26/1. Im Band 26/2 geht es ähnlich weiter: Die Bewohner der Polarzone seien „dreist“ (108), auch europäische Prinzen hätten dreiste Minen (109). „Die Africaner haben mehrentheils aufgeworfene Nasen, und dicke Wurstlippen, worin sie mit den Hottentotten übereinkommen“ (108 f., auch 110). Als ‚Racen‘ werden zunächst Goten, Mohren, Briten und Sachsen genannt; Deutsche hätten „blaue furchtbare Augen“ (108) und starke Körper (109), hier in der Bedeutung von ‚wohlbeleibt‘ (dies gelte auch von den Schwarzen: 109). Von afrikanischen Albinos wird gesagt, sie seien „sehr dumm und ganz viehisch“, weshalb sie von den Schwarzen aus der Gemeinschaft ausgestoßen würden (112). Von asiatischen Albinos wird behauptet, sie seien als ‚Kakerlaks‘ benannt, da sie ‚entsetzlich stincken‘ (112). Die Hottentotten sähen ‚sehr heßlich‘ aus (113). Die genealogische Frage nach dem ersten Menschen: „Wenn man sie [die Schwarzen] als eine Stammrace angeben wollte, so müßte man die weiße und die Oliven Farbe auch dazu machen, und dieses wäre dem Ursprunge der Menschen wiedersprochen, welcher von einem einzigen Menschen herrühret. [...] Ist Adam weiß oder schwarz gewesen?“ (113) Da es Schwarze nur in Afrika gebe, also nur in einem (zudem recht unzugänglichen) Teil der Welt, seien die ersten Menschen ‚vermutlich‘ weiß gewesen (114). Sie müssen aber auf jeden Fall in heißen Regionen gelebt haben, wo es genug Nahrung gibt, da sie ja Ackerbau erst erlernen mussten. Schwarze seien dumm, ebenso Samoieden und andere in Polnähe lebende Menschen (116); Amerikaner seien gleichgültig, Europäer mutig. Diese Schilderungen stehen durchmischt mit Schilderungen von Menschen mit Affenschwänzen (auf Borneo), von Riesen (Patagonien) und Pygmäen und gefleckten Menschen (116 f.).
Im nächsten Kapitel liest man in einem augenscheinlich Humes Fußnote aus dem Essay ‚Of national Characters‘ (1748) zitierenden Passus, Schwarze und Weiße hätten einen „ganz verschiedenen Charakter“ (121), Schwarze hätten ein läppisches Gemüt, seien wie Weiber, hätten kein ‚männliches Wesen‘, keine Klugheit und Tapferkeit (beim Kämpfen) und seien zu Sklaven geboren (122). Das folgt allerdings alles auf einen Abschnitt, in dem geschildert wird, wie sich schwarze Kinder alles mögliche selbst beibringen, auch ihren Verstand selbst sehr stark schulen würden. Die, die immer schon („von Anbeginn der Welt“) Sklaven gewesen seien, fände man in Indien/Asien; die Menschen dort seien sehr feige, ebenso die in China (122). Ihnen und den Afrikanern mangele es gleichermaßen an Talenten, was mit fehlenden Leistungen in den Wissenschaften und Künsten begründet wird; faul sei der Chinese auch (123). Es folgen abwertende Schilderungen der Inder, Türken, Chinesen, Creolen, Russen, Spanier, gefolgt von Darlegungen der natürlichen Tugend, Moralität und Ehrlichkeit aller Menschen auf der Welt (124).
Fruchtbare Länder brächten stupide Menschen hervor: deshalb seien die Polen faul, anders als die Engländer, Franzosen, Deutschen usw. (131). Der vollkommenste Geschmack wird den Griechen (wegen ihrer Architektur und Bildhauerei) zugesprochen; die Architektur in China, Indien und Ägypten zeige keinen Geschmack, Chinesen hätten generell keinen (133). Chinesen neigten zum Betrug, zur Lüge, zum Verstellen, seien feige, taugten nicht zum Krieg, hätten alberne Gewohnheiten (229; ähnlich auch 585). Der Abschnitt über China in der späteren Nachschrift nennt auch den angeblichen Hang zum Betrug und zu „niedrigen Gesinnungen“ (585), schildert die Kultur aber sonst weitaus positiver (585 ff.). Einwohner im heutigen Vietnam seien treulos, faul und wollüstig (236); die im heutigen Thailand seien hochmütig, unterwürfig, ängstlich (237). Indische Menschen seien ähnlich feige wie die Chinesen (238), verzagt im Krieg (239), „klein, feige, still, fleißig, sclavisch, mit wenigem zufrieden“ (241). Mönche dort seien allerdings „wohl die gütigsten Menschen auf der Erde“, sie handelten redlich und wohltätig (238). Die Parsen in Indien sähen „nicht gut aus“, seien „aber ruhig und fleißig“ (246); die Menschen in Persien seien früher hässlich gewesen, nun aber verschönerten sie sich immer mehr durch kaukasische Frauen (248). Perser seien frei, ungebunden, machten wohlklingende Verse (248), seien wohl gewachsen, zu allerhand Künsten aufgelegt, gute Reiter (249). Arabische Menschen seien sehr gastfrei, mäßig, ernsthaft, „im Durchschnitte aufrichtig“, aber die Händler seien Schelme. Araber hätten einen hohen Geist, seien „tapfer, geschickt, durch sie wurden die Wißenschaften in Europa ausgebreitet“ und sie hätten die Algebra erfunden (250). Das heutige Oman sei paradiesisch, habe das „schönste clima“, die Einwohner seien „die besten Menschen“, man fände keine Betrunkenen, keiner stehle, alle seien gastfrei; sie seien allerdings Seeräuber und glaubten, „sie können alle Menschen der Religion wegen haßen“ (251). Tartaren seien sehr hässlich (254), einige von ihnen hätten eine Art von Schwänzen wie Affen, und diese würden von den anderen gehasst (255). In Japan seien die Europäer „wegen der Portugiesen verjagt [worden], welche bey der Einführung der Christlichen Religion zu viel vehemenz brauchten“ (256). Die Japaner seien klein, untersetzt, „klug, tapfer, von großem Geiste, trotzig, aufrichtiger als die Chinesen und vielleicht die tapferste Nation in ganz Asien“, bekannt „besonders wegen ihrer Standhaftigkeit und Verachtung des Lebens“ (257). In Teilen Philippiniens gäbe es geschwänzte Menschen. Die Bewohner Manilas seien große Verteidiger ihrer Freiheit (259). Menschen auf den Marianen-Inseln seien „stark, wohlgebaut“, gingen meistens nackt; die Frauen geböten über die Männer (260). Menschen auf den Molukken hätten mehr Herz als alle anderen indischen Menschen (261). Auf Borneo und Sulawesi lebe eine Nation, die die tapferste im Orient sei (261); auf Java seien die Menschen „diebisch, sclavisch, wütend, bald wieder verzagt“ und arbeitsam (262); von den Nicobaren sage man, sie seien Menschenfresser, „vermuthlich weil sie denen Europäern, die ihnen ihr Land wegnehmen wollten, gefährlich in der Gegenwehr gewesen“ sind (263), denn Kannibalen gäbe es nur in Amerika (264). Auf den Malediven seien die Menschen „hochmüthig und eitel im Rangstreit“ (267). Afrikanische Menschen plauderten gern und könnten geschickt stehlen (268); an der Goldküste seien sie „bösartig“ (269). Sie würden „leicht melancholisch und ersäufen sich oft, aus Furcht vor der Sclaverey. Sie sind von Natur sehr stupid und zu keinen Wißenschaften aufgelegt“ (272). Die Hottentotten am Kap in Afrika seien freiheitsliebend und beim Exkrementieren „dem thierischen Zustand“ nah, sähen hässlich aus (272). Auf Madagaskar seien die Einwohner „sehr dumm“ (274). In Osteuropa seien die bessarabischen Tartaren „die beste Nation von der Welt, das Mein und Dein ist unter ihnen ganz sicher, weil sie allesamt arm sind“ (279). Die Einwohner Roms hätten einen läppischen Charakter, ähnlich dem junger Franzosen; Italiener seien insgesamt oft lächerlich; sie hätten mehr Akademien als ganz Europa zusammen, aber es herrsche die größte Unwissenheit, da die Religion „bey ihnen den Gebrauch der höheren Vernunft“ behindere; dafür seien sie Genies in den schönen Künsten und Wissenschaften (281). Franzosen werden nach Cäsar beschrieben als witzig, lustig, leichtsinnig (282). In jungen Jahren seien sie läppisch, dreist, munter und unausstehlich, im Alter liebenswürdig, gemäßigt lustig, gesellig. Franzosen seien zu tiefen Wissenschaften aufgelegt, könnten aber sogar darüber witzeln; sie seien in Europa in allen möglichen Hinsichten tonangebend, hätten feine und artige Sitten, aber begingen auch die abscheulichsten Massaker (283). Spanier seien hochmütig und stolz, bis zur Lächerlichkeit; ihre Religion halte sie in Blindheit und Aberglaube; in Portugal lebten lauter Juden, sie seien treulos, verräterisch, schlechte Soldaten (284); Engländer hätten (von den Angelsachsen her) einen freien Geist; nur die Deutschen hätten die rechte Freiheit gekannt und gehabt, gegen sie seien die Römer und Griechen Sklaven gewesen. England dulde keine Untertänigkeit und keine Sklaven; jeder Mensch urteile dort nach seinem eigenen Kopf; sie verachteten alle anderen Nationen, nur die deutsche nicht (286). Deutsche seien das edelste Volk hinsichtlich ihrer Talente und Künste, in Künsten und Wissenschaften geschickt, oft vortrefflich; sie seien zum Krieg geboren, die Erfinder des Buchdrucks und des Pulvers; sie seien sehr emsig, hätten größere Männer hervorgebracht und das Volk sei besser gebildet als man es in Frankreich gemacht habe (286 f.). Katholische Süddeutsche seien „durch Schuld der Religion stupid und unwißend“ gegen die im Norden (287). Schweden seien mehr zu tiefen als zu schönen Wissenschaften aufgelegt, sie seien jähzornig und erbittert (287). In Russland seien „2 racen von Einwohnern“; im Norden seien sie plump, faul und ungesittet; im Süden aufgeweckt und witzig (287). „Der Character einer Nation zeiget sich nur in der Freyheit, Unglück macht boshaft und trotzig, Sclaverey lasterhaft“; Russen seien daher nur der Umstände halber tückisch, versoffen, misstrauisch, das gehöre nicht eigentlich zu ihrem Charakter (288). In Polen seien die Menschen faul, feige, „verzagt, biegsam in ihrer Sclaverey, weichlich und leichtsinnig“ (288). In der ‚neuen Welt‘ hätten sich gegenüber der ‚alten‘ ganz eigene Tierarten entwickelt, und so sei auch der amerikanische indigene Mensch „ganz von andern Menschen verschieden“, nicht so gesellig, behandele die Frauen kaltsinnig und unterdrücke sie (289), sei nicht munter oder lebhaft. Spanier hätten die indigene Bevölkerung quasi ausgerottet (290); Schwarzafrikaner im Senegal seien „die witzigsten Leute und die am besten aussehen“, die Creolen seien geistreich. Sie behandelten (andere) Schwarze verächtlich (290); alle Schwarzen seien hochmütig, eitel, sehr dumm, wüssten das aber gut zu verbergen; karibische Menschen sähen sehr melancholisch aus und seien phlegmatisch (290). In Peru seien die Einheimischen faul und phlegmatisch, in Chile seien sie „desto lebhafter, gute Jäger und Soldaten“ (291). Auf einigen karibischen Inseln gäbe es viele Schwarze, zum Anbau von Indigo, Zucker und Tabak (294). Die Franzosen bezeichneten „alle Einwohner der Länder Nordwärts“ als „Esquimaux, weil sie rohes Fleisch eßen“ (295). Amerikaner seien alle kupferrot, „behende, haben keinen Bart, und sind von keiner dauerhaften constitution“; sie hätten einen Hang zur Freiheit, von der man aber „selten Spuren“ finde (295). – „Ueberhaupt ist die Nation in Süden in dem allerniedrigsten Grad der Menschheit, indem sie nichts mehr interessirt als das Eßen. Die Wilden in Norden, obgleich sie weiter gegen den Pol sind weit interessanter.“ (370) In den Bergen lebten immer freiheitsliebende Menschen; der Unterschied zwischen den Schotten der Highlands und denen des Flachlandes sei, dass diese „sehr weichlich erzogen werden“ (379).
Albinos seien „erstaunlich dumm und einfältig“ (507); es könnte sein, dass Menschen verschiedenen Phänotyps durch Vermischung Fähigkeiten einbüßten (507); Chinesen und Japaner könnten aus der Vermischung der Inder und Mongolen entstanden sein (508); Mongolen seien als ‚Scheusal‘ der menschlichen Natur anzusehen; sie hätten „eine sehr entsetzliche Leibesbildung“ und „viele Unruhen angerichtet“ (508). – Die ursprüngliche Hautfarbe scheine die weiße zu sein, diese Farbe könne „in andere Farbe degeneriren“. Adam sei weiß und blond gewesen (509), die blondesten Völker seien wohl die deutschen (509 f.). Schwarze Haut habe sich über lange Zeit „nur in Neuguinea und Africa“ entwickelt und zwar aufgrund der anhaltenden Sonnenhitze (511). Angesichts großer Verschiedenheit bei räumlicher Nähe habe der Lebensraum laut Hume keinen Einfluss auf Charakter und Fähigkeiten der Menschen; laut Montesquieu habe er das durchaus (512 f.). Nordamerikaner seien unempfindlich, enthaltsam im Kinderzeugen, tapfer im Krieg, solange noch Hoffnung auf Sieg besteht, anders als die Europäer, die sich bis zum letzten Blutstropfen wehrten. Peruaner seien gleichmütig, so auch die Sklaven (513); dies scheint von der großen Stumpfheit ihrer Sinne herzurühren; auch seien sie einfältig und vergäßen alles, was die Jesuiten ihnen beibrächten, sobald sie die Kirche verlassen hätten (514). Die indigenen Völker seien sehr beherzt, rachsüchtig, wollüstig, geldgierig, eitel, feige, furchtsam (514); schwarze Menschen hätten ein sehr flatterhaftes und leichtfertiges Wesen, würden früh klug und redeten als Teenager schon wie alte Menschen; dennoch blieben sie kindisch und gingen an ihrem einzigen freien Tag lieber tanzen (514). – Auch in der Nachschrift aus den 1780er Jahren werden die angeblichen Menschen mit Affenschwänzen (Borneo) genannt, hier relativiert: Es könne sich um einen Irrtum vorbeifahrender Seeleute gehandelt haben (517); sodann werden Menschen mit den Tigerflecken auf der Haut sowie Cretins, Menschen mit vergrößerter Schilddrüse, thematisiert, die sanften Temperaments seien, das aus Mangel der Vernunft herrühre (518). Schwarze Völker werden in puncto Ernährung „gesitteten Nationen“ gegenübergestellt (521). Sibirische Völker müssten oft im Winter hungern, weil sie zu faul seien, „auf die Zukunft bedacht zu seyn“ (521). Frauen würden bei Amerikanern wie Haustiere behandelt, die die ganze Arbeit erledigen müssten, in Asien würden sie eingesperrt, von aller Arbeit befreit und meistens gut behandelt. „In Europa allein ist die Galanterie eingeführt.“ (523) – Die „Kinder sowohl als die Wilden“ hätten keinen Abscheu vor „gewißen Dingen wegen ihres Geruchs“; deshalb sei Gefallen oder Missfallen daran wohl Sache der Mode (536). In den Abschnitten über Nationalcharaktere sind die meisten Schilderungen denen aus dem früheren Manuskript ähnlich. Einwohner von Tonkin seien „redlicher als die Chinesen, dabey aber erstaunlich arm, sonsten aber dieser Nation in allem ähnlich“ (592). Persische und lateinische Wörter entstammten ursprünglich der deutschen bzw. der keltischen Sprache (593 f.). Von ursprünglich deutschen Völkern, in denen doch etwas Großes zu stecken scheine, stammten die Franzosen (von den Franken), die Engländer (von den Dänen, Norwegern und Sachsen) und die Italiener ab (596). Zwischen den mohammedanischen Persern und den Türken gäbe es den größten Religionshass in der ganzen Welt (594). In türkischen Ländern seien die Einwohner stolz, verwegen, melancholisch und sehr plump (594). Die Beduinen seien sorglos und gastfreundlich, ähnlich wie die Völker in den russischen Steppen; das hänge mit ihrer Armut zusammen. Bei Reichen bestehe „Gastfreundschaft nur in der Höflichkeit“ (595). Beduinen beraubten gern die Reisenden (595). Die Kirgisen seien eine sehr „räuberische Nation“. Russen, Tungusen und Mongolen verfluchten sich immer gegenseitig (597). Die Tungusen seien sehr stolz, „wie solches alle Faule Nationen“ seien (598). Die Bewohner Afrikas seien abgesehen von den Nachfahren der Mauretanier schwarze Menschen; die drei „berühmtesten Nationen“ (im heutigen Senegal und Mali) seien gesittete Völker und mohammedanischer Religion (600). Sonst seien die Schwarzen dem „Stehlen und Brandtwein sehr ergeben“ (600). Von der Sklavenküste (Guinea) aus würden „von den Elenden bis 120.000 jährlich nach America in die Plantagen geschleppt“, wo sie meist „sehr grausam gehalten“ würden (600). Wegen dieser Gefahr der Verschleppung könnten sie sich untereinander, auch in den Familien, nicht trauen. Die Hottentotten werden erneut sehr abwertend beschrieben, sie seien das ‚ungeschlachteste Volk der Welt‘ (601); sie hätten keinen Ekel vor Gestank und lebten unflätig (602). Auf La Réunion habe man Bernstein gefunden, den sie „nothwendig aus Preußen müssen bekommen haben“, wobei es unklar ist, wie das habe geschehen können (607). Chiles Einwohner seien die tapfersten und sehr unempfindlich (608); in Brasilien gebe es Zucker-, Kaffee- und Tabakplantagen, in denen Schwarze arbeiten und „sehr grausam“ gehalten würden (609); diese Arbeitskräfte würden teuer aus Afrika geholt, weil die amerikanischen indigenen Völker so unempfindlich seien, dass man sie nicht zur Arbeit antreiben könne (609). Zu den von den Jesuiten missionierten Indigenen heißt es, sie blieben so einfältig wie zuvor und könnten nicht zählen lernen (610), da ihre Worte zu langsilbig seien; das verrate doch, „daß bey ihnen eine würklich schlechtere Fähigkeit, als bey andern rohen Menschen anzutreffen sey“ (611); diese Zeilen enthalten m. E. eine Menge Ironie. – Nordamerikaner seien tapfer und rachsüchtig, unempfindlich, erzögen ihre Kinder ohne Gewalt, aber mittels der Vorstellung von Ehre und lassen ihnen „völlige Freyheit [...], welches doch anzeigt, daß Kinder bey der ihnen doch gelaßenen Freyheit beßer, als gezwungene gerathen“. Sie verzehrten ihre Feinde (611). Sie spielten in ihrer Jugend, werden aber als Erwachsene sehr melancholisch (612); Schwarze verfielen „jetzo auch auf eine Art der Tapferkeit“ (612 f.) und zettelten Aufstände an. Man bemerke, dass „die Wilden sich sehr einander ähnlich seyn, welcher Umstand die OriginalTriebe des Menschen einigermaaßen entdecken konnte. Ihre Freundschaft ist weit enthusiastischer als die Europaeische und hegen besonders gegen den Diebstall [sic] einen grossen Abscheu“. Die Nordamerikaner hätten von allen amerikanischen Völkern den größten Verstand; die Europäer hätten ihnen das Land gestohlen und nur Unglück und Krankheiten gebracht; irgendwann würden sie daher ausgerottet sein. (613) Die Inuit würden von den Franzosen als „grausame, trotzige und halsstarrige“, von den Engländern als „eine sehr milde Nation beschrieben“ (614). Wenn einem Grönländer sein Kajak umschlägt, so würden die anderen lachen; das zeige, „wie die Menschen, die beständig in Gefahr sind kein Mitleiden haben“ (615). Grönländer ekelten sich nicht vor Gestank. Frauen würden als Haustiere angesehen, aber „im verfeinerten und gesitteten Leben“ sehr hoch gehalten (615 f.). Sie erteilten ebenfalls Befehle, und das könnte allgemein „zum Nachdenken über den Unterschied dieser beyden Gattungen“ Anreiz geben (616).
In Australien lebten Menschen „im größten Stande der Wildheit, sie haben nicht einmahl Götter wie die Grönländer“; die Feuerländer kämen der Wildheit und Torheit am nächsten, sie zeigten nicht den geringsten Geist, seien überhaupt nicht neugierig (664 f.). Boote indigener Völker überträfen an Schnelligkeit jedes europäische Jagdschiff (736). Die Amerikaner bildeten eine eigene Rasse, stammten möglicherweise nicht von den Mongolen ab. Sie hätten „eine andere GemüthsArt, und weniger Verstand als die Weißen, und andere Racen“ (741). Amerika sei „eine ungeheure große Wildniß“, beschenkt mit Naturprodukten; der „menschliche Geist“ aber läge dort in der „tiefsten Finsterniß“. Auf Neuseeland und Malicolo seien die Menschen hässlich, „aber von außerordentlichen GeistesGaben“, auf Tahiti von zarter, schöner „Leibes-Constitution“ (767). Die Anpassung schwarzer Menschen an heißes Klima wird mit ihrer Hautbeschaffenheit erklärt, die Haut könne das schädliche ‚Phlogiston‘ aus der Luft ausschwitzen (815 f.). Feuerländer seien die „elendesten Menschen von der Welt“ (842), klein, kümmerlich, ohne Bart, begierig auf Essen; sie lassen ihre Hütten offenstehen, essen „ihre Kinder und vielleicht auch sich selber“ (843; auch ähnlich 1090 f.). Das Gesicht eines kalmückischen Menschen sei mehr von dem eines Europäers unterschieden als das Gesicht eines Schwarzen (881). Die erste Rasse sei die der Europäer und Asiaten gewesen, dann seien die Kalmücken, die Inder und die Schwarzen entstanden (882). Die ölige Haut der Schwarzen sei die Ursache für den Gestank ihrer Körper (883). Bei den amerikanischen Indigenen seien „alle menschlichen Eigenschaften im höchsten Grad verloschen“, sie hätten keinen Antrieb, seien unempfindlich; europäische Ärzte hätten sich verwundert, „wie diese Menschen bey den Operationen solche Schmertzen so standhafft aushalten können“; auch der Geschlechtstrieb sei bei ihnen sehr schwach (886). Kämen ihre Nachfahren nach Europa, würden sie lebhaft, wie es den Europäern eigen sei; blieben sie in Amerika, hätten sie „etwas eigensinnig unempfindliches an sich“ (887). Indische Menschen hätten möglicherweise kühleres Blut als „die übrigen Völker“, daher häufig kalte Hände; man könnte damit auch ihre „Kaltblütigkeit und Resignation“ des Gemüts erklären (887). Auch Albinos dünsteten aus und stänken; der Gestank komme nicht von Unreinigkeit her (891), sondern weil Afrika als Land so viele Ausdünstungen habe, die könne ein Mensch nicht allein über die Lunge verarbeiten, sondern das müsse auch über die Haut erfolgen (892). Senegalesische Schwarze seien die schwärzesten, hübschesten unter allen, hätten „nicht so sehr dike Lippen“ wie die anderen; man könne schwarze Menschen „hübsch finden, wenn man viel mit ihnen bekandt ist, denn unser Abscheu vor der schwarzen Farbe“ sei „nichts als Gewohnheit“ (893). Ursachen für die schwarze Hautfarbe in biblischen Geschichten über Fluch und Strafe zu suchen, sei Unsinn; schwarze Menschen würden „es für eine große Strafe halten, weiß zu seyn“, weil das ganz unzweckmäßig für ihr Klima wäre, außerdem wisse man „ja nicht einmal, was Noah oder Adam für eine Farbe gehabt haben“ (895). Von keinem Tier sei die Stammgattung bekannt (896). Das mögliche Aussehen des ersten Menschen wird diskutiert (897-901). Bei amerikanischen Indigenen sei alle Lebenskraft erloschen, sie seien „degradirte Menschen“, wohingegen schwarze Menschen „sehr gelehrig und cultiwirbar“ seien. Der Amerikaner lache nicht und rede kein Wort (901). Deutsche hätten sich durch Vermischung mit anderen verbessert; ihr ursprünglicher Charakter sei träge (901). Amerikaner: unempfindlich. Schwarze: lebhaft, eitel. Inder: selbstbeherrscht, zurückhaltend, Talente zu allem, was Sittlichkeit und Ausdauer erfordert, aber keinen feurigen Mut. Europäer: scheinen alle Talente in sich zu vereinen (907 f.). Chinesen hätten nicht das aufbrausende Temperament der Europäer, sähen „alle wie Philosophen aus“, seien an die schärfste Disciplin gewöhnt (1045); die Türken hätten mehr Geist als die Chinesen (1048). Indische Völker verdienten ein besseres Los, sie würden unter einem europäischen Souverän glücklicher (1058). Malaien seien ein böser Schlag und meuchelmörderisch (1064). Persien sei hochberühmt, früher sehr bedeutend, jetzt in jämmerlichem Zustande; aus der persischen Nation könne alles gebildet werden; sie haben sehr viel Kultur und mehr Wissenschaft als die Türken (1068 f.). Perser seien aufgeweckt, artig, tüchtig, ehrlich, aber von Natur aus „von so niedriger DenkungsArth, daß sie keinen andern Lohn kennen, als der durch Reichthümer entspringt, so wie aller orientalischer Eigenschafft der Geitz“ sei. Die ältesten „Parther“ müssten (aus linguistischen Gründen) Deutsche gewesen sein (1068). Die Araber seien ehrlich, von guter Art, „und selbst wo sie räuberisch sind, thun sie nicht so leicht Gewalt an“ (1069); sie hätten wenig Wissenschaften, seien gesellig und aufgeweckt. Türken seien wacker, die besten Völker in gleich welchen Regionen (1070), überträfen Griechen und andere, auch alle christlichen Völker. Betrug und Niederträchtigkeit sei bei den Christen häufiger; Türken seien ehrlich, liebten aber die Empörung und den Eigennutz zu sehr und hätten zu wenig Gerechtigkeit (1071). Sie hätten keine Achtung vor Gesetzen; Chinesen und Inder hätten zu wenig Mut; Hochachtung vor Gesetzen setze „höhere Ideen voraus“ (1071). Wenn Völker blind der Religion folgen müssten, könne keine Vernunft aufkommen (1072). Schwarzafrikanische Menschen seien „gut von Geist, munter, witzig und aufgewekt, werden regiert durch Könige“; sie könnten Arbeit ertragen, die sonst kein Mensch aushalte; von ihnen würden jährlich 20.000 nach Amerika verkauft; man müsse Gewalt anwenden, um ihrer habhaft zu werden, oder man mache sie betrunken; sie würden sich gern besaufen; gegenseitig verkauften oder verrieten schwarze Menschen einander an die Europäer (1080). Die unsäglichen Bedingungen der Verschleppung in die Sklaverei werden beschrieben (1081). Schwarze Menschen seien aufgeweckt und könnten allerlei lernen, nur nicht Dinge des Geistes, aber Sprache und Künste für den Handel und allen Witz, der zum Kaufen gehört (1081). Grönländer seien gelinde und sittsam (1085); Peruaner die einfältigsten Menschen in ganz Amerika; sie verwahrten ihr Geld im Mund, weil sie keine Taschen hätten (1091).
Im Folgenden Auszüge aus der gedruckten Ausgabe von 1838: „Verschiedene Menschenarten giebt es nicht“ (1108). Menschen des amerikanischen und des schwarzen Phänotyps seien „gutmüthig und duldsam“; ein Nachkomme eines weißen und eines schwarzen Menschen tauge aber charakterlich nichts (1110). Amerikanische indigene Menschen seien unempfindlich (s.o.); kennten keine Furcht vor dem Tod, was „wahrscheinlich von ihrer großen Liebe zur Freyheit“ herrühre (1111). Spanier hätten ihre Rasse „degradirt“, wenn sie sich mit den Menschen aus Mexiko vermischt hätten; amerikanische Indigene seien degradiert, weil sie nirgends lange genug gelebt hätten (1111). „Die ersten Völker hatten eine solche Leibesbeschaffenheit, daß sie für jeden Himmelsstrich paßten. Jetzt aber haben sich alle Menschenraçen entwickelt, [...]; es ist nun weiter keine Raçe mehr möglich“ (1112). „Alle Völker lieben den Rausch mehr oder weniger: dies rührt von der Last des menschlichen Lebens her, an welche sie dann der Rausch gar nicht denken läßt“; Menschen seien „von Natur nicht gutartig“, hätten „einen Hang zum Bösen“, bekriegten sich fortwährend. „Die höchste Tugend der Wilden ist ihrer Meynung nach die Kriegstapferkeit“ (1115); Krieg mache mehr böse Menschen als er wegraffe (1116). Aber es werde nicht immer Krieg sein; Freiheit und Gerechtigkeit würden irgendwann aller Despotie ein Ende machen. Die menschlichen Anlagen, die ursprünglich sind und die man kultivieren müsse, seien: a) lebende Tiere, b) lebende und vernünftige Menschen und c) vernünftige und der Zurechnung fähige Persönlichkeiten zu sein (1116). Damit enden die Passagen aus der gedruckten Ausgabe von 1838.
„Man hält sich über Gewohnheiten anderer Völker auf und vergißt daß man es selber eben so macht“ (1121). Mit Verweis auf Hume: unter 1000 freigelassenen Schwarzen habe man kein Beispiel von jemandem, der sich durch „besondere Geschiklichkeit hervorgethan“ habe (1132). Cretins, auch Tölpel genannt, seien „wie Kinder, werden auch so behandelt“ (1132). Chinesen hätten in der Kunst kein Genie, würden „nicht einmal“ versuchen, z. B. europäischen Schiffbau nachzuahmen; „Cultur und Polizei“ gäbe es dort viel, aber „sklavisch“ (1139); Chinesen seien rastlos arbeitsam (1140). In ihrer Kultur entwickelten sie sich nicht, alles sei „im traurigsten Zustande“ (1141). Der Handel mit schwarzen Sklaven „ist gewiß moralisch verwerflich, aber er würde statt finden, wenn auch kein Europäer wäre“ (1142). – Damit sind die Auszüge wertender Passagen aus den Vorlesungnachschriften über Physische Geographie beendet.
Die Physische Geographie in das akademische Curriculum eingeführt zu haben, ist Kants Verdienst. Er ist der Erfinder dieser Disziplin, und er vermittelt eine ungeheure Menge an Informationen, die seine Zuhörer zur damaligen Zeit nirgendwo sonst hören und die sie nur lesen konnten, wenn sie reich genug waren, um teure Bücher erwerben zu können. Ich denke, um das Behalten dieser Fülle an Information zu fördern, schildert er Völker und Kulturen auch in ästhetischen und moralischen Aspekten und insgesamt recht holzschnittartig. Dadurch kann man sie für eine beiläufige Moralunterweisung, als Elemente einer ‚Struwwelpeter‘-Pädagogik, einsetzen. Sie dienen so als Merk- und Abziehbilder. Es geht nicht um die Menschen fremder Kulturen, so, als würde man diesen am nächsten Tag begegnen (was zu der Zeit völlig unmöglich schien), sondern um ‚Typen‘, die an die Erfahrungswelt und die Gepflogenheiten europäischer Menschen herangeholt werden, um die Zuhörer zum Nachdenken anzuregen. Einige fremde Kulturen werden als ganz anders und in ihrer Fremdheit nicht heranholbar dargestellt, insbesondere indigene amerikanische und afrikanische Kulturen.
Die einzigen, die durchweg mit weißer Weste wegkommen, sind die Deutschen. Warum? Weil man so die Zuhörer, die Deutsche sind, motivieren kann; weil man ihnen signalisieren kann: Seht, Ihr habt Glück gehabt, klimatisch gesehen sind Eure Ausgangsbedingungen gut; Ihr lebt in einer Region, in der es kulturelle und wissenschaftliche Errungenschaften gibt, und ohne die wird man eben den Kampf gegen die der Aufklärung feindlichen Kräfte nicht schaffen können. Ihr habt Glück gehabt, nun macht auch etwas daraus. Zügelt Eure Begierden, kultiviert Euch. Werdet nicht unempfindlich gegen Schmerzen (wie angeblich die indigenen Völker Nordamerikas). Und huldigt nicht dem Mammon, und seid nicht hinterhältig oder eigennützig oder unehrlich usw.
Dass ich das so lese, verdankt sich primär eigener Erfahrung: Selbst ich bin noch, hunderte von Jahren später, 800 km weiter westlich in der norddeutschen Tiefebene, in ähnlicher Weise erzogen worden, mit Sprüchen wie ‚ein Indianer kennt keinen Schmerz‘ oder ‚hier sieht es ja aus wie bei den Hottentotten‘ (auf bedenkliche Zustände des Kinderzimmers gemünzt). Eltern wie Kinder wussten diese Abziehbilder, mindestens intuitiv, sehr wohl von der ‚echten‘ Welt zu unterscheiden.
Ist dieses ‚Benutzen‘ des Anderen mit der Absicht, das Eigene zu fördern, als moralisch bewertbare Handlung auszuweisen? Ich denke, das wäre dann adäquat, wenn seinerzeit die Akteure davon hätte ausgehen müssen: die echten Menschen hinter den Abziehbildern können die entsprechenden propositionalen Inhalte hören oder lesen. Dies war allerdings zur damaligen Zeit undenkbar; hätte man geahnt, dass es in nicht allzu ferner Zukunft in den Bereich des Möglichen rückt, wären bestimmte Charakterisierungen (bei Kant und anderen) womöglich (und hoffentlich) freundlicher ausgestaltet worden.
8. Für wen gilt die Aufforderung der Aufklärer zur Selbstbefreiung?
Die Utopie der Befreiung von jeglicher Unterdrückung und das prinzipielle Vertrauen auf die menschliche Vernunft ist ohne irgendeinen Zweifel und ohne irgendeine Einschränkung für alle Menschen auf der Welt ersonnen und gemeint. Alle Menschen haben dieselben Rechte, und alle Menschen überall auf der Welt gehören zu derselben Familie.
Auf der Seite der Rechte: keine Diskussion. Kant mutet dem autonomen Individuum allerdings einen Pflichtenkatalog zu; und dieser sowie weitere Erfordernisse der Selbstreflexion, Aufklärung und Selbstbefreiung können auf der Seite der Umsetzung faktisch NICHT mit allen Menschen auf der Welt in Zusammenhang gebracht werden. Denn die nötige Kraft und die nötige Zeit, die man für die Umsetzung benötigt, können nicht alle aufbringen, nicht wenn sie den ganzen Tag im Bergwerk schuften oder in einem Krankenhaus oder oder. Aufklärung stellt eine Vieles umkrempelnde Zumutung dar. Das ‚Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen‘ bedeutet außerdem auch eine Art Kontrapunkt zu vielen Kulturen auf dem Globus. Zu Kants Zeit stand dieser Aufforderung insbesondere die in Europa hinreichend bekannte Unterdrückung, Ausbeutung, Bevormundung und Sklaverei von Menschen überall auf der Welt, insbesondere in den Kolonien, entgegen.
Es wäre im höchsten Maße unangemessen gewesen, den versklavten und verschleppten Menschen anzutragen, dass sie sich in ihrer Situation gefälligst zum Selbstdenken befreien sollen. Natürlich hat es Sklavenaufstände gegeben und natürlich lag den unterdrückten Menschen an Freiheit. Ihre Befreiung hätte man politisch fordern müssen; dass die Aufklärer dies nicht in aller Klarheit zum Ausdruck gebracht haben, mag man ihnen von heute aus vorwerfen. Die Idee der Selbstbefreiung zu individueller Freiheit und zum Selbstdenken ohne Anleitung durch Andere aber, die im Zentrum der Aufklärung steht und die man von der Befreiung aus den Ketten der Sklaverei m. E. noch einmal unterscheiden muss, kann eben nicht ohne Weiteres den Menschen egal welcher Kultur angetragen werden. Ein unbedingt autonom zu denkendes Sich-Selbst-Befreien ist nicht für jeden Menschen auf der Welt anwendbar, nicht in Kants Zeit und nicht heutzutage. Denn diesen radikalen Befreiungsvorgang WOLLEN ja gar nicht alle Menschen/ alle Kulturen auf der Welt mitgehen.
Dieses ‚Nichtwollen‘ kann aber nun innerhalb der kantischen Philosophie kein Wollen sein, das sich selbst bereits transzendentalphilosophisch grundgelegter Freiheit und Autonomie verdankt, sondern es ist den Menschen zugeordnet, die sich selbst zu keiner Zeit im pragmatischen Sinne deuten würden. Ein ‚Nichtwollen‘ verdankt sich Lebens- und Kulturformen, in denen man sich selbst in erster Linie gemäß Herkunft und Tradition versteht und zum Handeln motiviert. Diese Kulturen sucht Kant, so meine ich, in ihrer Geltung und in diesem ‚Nichtwollen‘ zu BEWAHREN: Er spricht sich klarerweise nirgends dafür aus, dass eine Kultur in die andere eingreifen oder sie manipulieren dürfe. Im Druckwerk sorgen m. E. eingestreute derb formulierte körperliche Attribute dafür, dass die entsprechenden Ethnien vor den Zumutungen der Aufklärung in eine gewisse Sicherheit gebracht werden; auch in den Vorlesungen finden sich ziemlich ruppige Charakterisierungen. Das ist kein Grundsatzurteil über andere Völker und ihr Potential, sondern die Vorstellung der Aufklärer war ungefähr: Wir gehen schon mal vor und ihr kommt dann nach, falls es dann für euch passt. Und wohin gehen sie? In ihr Utopia, in eine Welt, die so noch nicht existiert. Die Aufklärer waren Utopier im Denken, und das muss gerade heute genauestens unterschieden werden von denen, die die Expansion Europas und die Invasion in andere Erdtteile aus wirtschaftlichen oder religiösen Gründen vorantrieben und die aus niederen Motiven wie Habgier und Hass Verbrechen an der Menschheit verübten.
Die utopische Idee einer aufgeklärten Welt freier Individuen auf der Grundlage der universalen Bedeutung des Freiheits- und Vernunftbegriffes, die für jeden Menschen gleich welcher Herkunft grundsätzlich gilt, hat jedenfalls auf der Seite dessen, was der Mensch als Mensch aus sich machen kann und soll, also was die PRAGMATISCHE Selbstdeutung betrifft, mit Einschränkungen zu tun. Die universal gedachte Utopie wird je nach Kultur verschieden ausgeformt werden müssen.183 Denn manche Kulturen lassen gemäß der Innigkeit, mit der sie ihre Leute einem Denken und einer Lebensweise verpflichten – in der Konzeption Kants wird diese Innigkeit letztlich von den verschiedenen Klimazonen und ihren physischen Zwängen abhängig erklärt –, diesen gar nicht den Raum, um zu einer pragmatischen Deutung des eigenen Ichs gelangen zu können.
9. Zusammenfassung
Die ‚Wissenschaft vom Menschen‘ wird im 18. Jahrhundert mit der Dringlichkeit konfrontiert, sich neu zu sortieren und die Methoden und die Grundlagen der eigenen Theoriebildung zu klären. Das war aber nicht so leicht. Man stand in Europa noch mit einem Bein im Denken des konfessionellen Zeitalters; religiöse Denkmuster hatten weiterhin Wirksamkeit. Die Aufklärung konnte nicht in der Breite und mit dem Rückhalt wirken, wie es aus späterer Sicht vielleicht wünschenswert gewesen wäre. Einzelne Autoren strebten universale, universalhistorische Theorien (Voltaire) an, aber diese waren naturgemäß bei aller Überwindungsfreude und Polemik in der Wolle europäisch gefärbt.
Kant ist durch seine monogenetische, aber strikte Einteilung von Ausprägungen menschlichen Lebens in den verschiedenen Regionen des Globus, mit denen diese m. E. vor den Zumutungen der Aufklärung erst einmal geschützt werden konnten, und dadurch, dass er in der Tradition der Aufklärung den Blick auf das ‚Fremde‘ für die Förderung und Erziehung des ‚Eigenen‘ benutzt sowie insgesamt durch seine erkenntniskritisch, ethisch, rechtsphilosophisch und völkerrechtlich absolut innovative Philosophie gerade NICHT chauvinistisch oder paternalistisch gegenüber anderen Ethnien und Kulturen aufgetreten. Seiner Philosophie wohnt Derartiges auch nirgends inne, nicht in Form versteckter Gesinnung und nicht in Form eines geheimen ideologischen Überbaus.
Das Problem scheint eher darin zu bestehen, dass man heute nicht immer genug über das Denken der Aufklärungszeit, über Methoden, Rhetorik und die Absetzungsleistung von einem immer noch stark konfessionell geprägten Zeitalter zu wissen scheint. Die Aufklärung kann zudem keinesfalls ausgehend von den Ereignissen und Personen des 19. Jahrhunderts beurteilt werden. Es wäre gut, ein Bewusstsein darüber zu entwickeln, dass sich beide Epochen ganz wesentlich voneinander unterschieden. Aufklärung war letztlich in ihren Inhalten und Zielen wie auch in ihren Methoden gescheitert; es gab etwa um die Jahrhundertwende einen Bruch und einen absoluten Vertrauensverlust, der sicher auch mit den Schrecken der Französischen Revolution zusammenhing.
Bertrand Russell analysiert die großen Bögen so: „Rationalismus und Antirationalismus haben seit Beginn der griechischen Zivilisation nebeneinander bestanden, und sooft eine der beiden Richtungen zur Alleinherrschaft zu gelangen schien, kam es stets durch Reaktion zu einem neuen Durchbruch der entgegensetzten Richtung. Die moderne Auflehnung gegen die Vernunft weicht in einem wichtigen Punkt von den meisten früheren Revolten ab. Von den Orphikern an war in der Vergangenheit das Ziel gemeinhin die Erlösung [...]. Die Irrationalisten unserer Zeit streben jedoch nicht Erlösung, sondern Macht an. Sie entwickeln damit eine Ethik, die im Gegensatz zur christlichen und buddhistischen Ethik steht, und ihre Herrschsucht treibt sie zwangsläufig zu politischer Betätigung. Ihre geistigen Ahnen unter den Schriftstellern sind Fichte, Carlyle, Mazzini, Nietzsche [...].“184
Fichte hielt im Jahre 1807, so Russell weiter, „seine berühmten ‚Reden an die deutsche Nation‘, in denen zum erstenmal das Glaubensbekenntnis des Nationalismus herausgestellt wurde: der Deutsche sei allen anderen Modernen überlegen“.185 Die Idee, dass der Mensch veredelt werden müsse, und dass „der ‚unedle‘ Mensch keine eigenen Anrechte besitze, ist der Wesenskern des neuzeitlichen Angriffs auf die Demokratie. Das Christentum lehrte, daß jeder Mensch eine unsterbliche Seele habe und daß in dieser Hinsicht alle Menschen gleich seien; die ‚Menschenrechte‘ waren nur eine Weiterentwicklung der christlichen Lehre [...]. Aber Fichte stellte, eine Art politischer Calvin, gewisse Menschen als die Erwählten heraus und lehnte alle anderen als bedeutungslos ab. Die Schwierigkeit liegt natürlich darin, zu wissen, wer die Erwählten sind. In einer Welt, die Fichtes Lehre allgemein anerkennt, würde sich jeder Mensch für ‚edel‘ halten und sich einer Partei von Leuten anschließen, die ihm hinreichend ähneln, um den Anschein nach auch etwas von seiner Erhabenheit zu besitzen. Das kann seine Nation sein, wie in Fichtes Fall, oder seine Klasse, wie im Fall eines proletarischen Kommunisten, oder seine Familie, wie bei Napoleon. Es gibt kein objektives Kriterium für ‚Adel‘ außer Erfolg im Krieg; daher ist Krieg das zwangsläufige Resultat dieses Glaubens.“186 Und Russells Schlussfolgerung lautet: „während die Vernunft ihrem unpersönlichen Charakter gemäß eine weltumspannende Zusammenarbeit möglich macht, ist bei Unvernunft, da sie private Leidenschaften vertritt, der Kampf unvermeidlich.“187
Meines Erachtens hat man noch nicht hinreichend durchdrungen, dass Lichtjahre das Denken Kants vom Denken Fichtes trennen. Und das liegt letztlich auch, so schlicht es klingen mag, daran, dass man die ironischen Passagen und die Doppelbödigkeit bei Kant nicht verstanden hat bzw. bis auf den heutigen Tag nicht versteht oder verstehen will. Doppelbödig und ironisch polemisieren und dabei subtil bleiben, hat eben eine Entsprechung zu der Forderung, dass die Menschen mit dem Selbstdenken beginnen sollen: Denn Ironie erkennen kann ich nur als Einzelne, als Einzelner, das kann mir auch niemand im Sinne einer Anweisung vorschreiben. Ironie ist letztlich das beste Mittel gegen Gruppenzwang und unmündiges Denken.
Ironie gehört aber in heutigen Zeiten nicht mehr zur Philosophie und natürlich erst recht nicht zur Politik. Für manche Menschen ist es vermutlich auch schwer zu verstehen, wie denn angesichts der Gräuel bestimmter Ereignisse jemals Ironie oder Satire anstelle von unmissverständlichen Bekenntnissen und Empörung das passende rhetorische Mittel gewesen sein konnten. Vor diesem Hintergrund wird man dann sicher auch Blumenbachs Ausführungen,188 die in den Eintrag ‚Race‘ im Krünitz189 übernommen wurden und in denen die diversen Schweinerassen in Analogie zu den diversen menschlichen Phänotypen untersucht werden, als nicht adäquat bewerten. Ich denke aber, dass derartige Forderungen nach Wortwörtlichkeit und Bekenntnis dem Geist der Aufklärung und den Autoren, die auch satirisch und ironisch schrieben, wie Voltaire, Montesquieu, Hume, Montaigne, Erasmus, Bacon, Swift und eben auch Kant, nicht gerecht werden können.
Fazit – Freude ermöglichen
Frieden in der Welt, die Beendigung von Unterdrückung und Ausbeutung und ein menschenwürdiges Miteinander wird dauerhaft nur durch das Wirken einzelner Menschen ermöglicht – nicht durch politische oder religiöse Gruppen, die das Primat der Individualität und Selbstbestimmtheit von Menschen grundsätzlich negieren. Denn solche Gruppen kennen nur Ziele, die wiederum den Zielen anderer Gruppen widerstreiten. Das führt nicht zu Frieden, sondern zu Konflikten und Krieg.
Individuen aber erkennen in anderen Individuen nichts ‚Wesensfremdes‘, sondern genau das, was sie selbst sind: Unteilbares und Unverwechselbares, sowie, für den Fall, dass ein Individuum nicht zu den von Natur aus der Unterdrückung unfähigen Lebewesen zählt:
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etwas, das selbstdenken, reflektieren, sich Zwecke setzen kann
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etwas, das sich selbst als obersten Zweck/als Ziel in sich selbst betrachten kann
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etwas, das an der Stelle eines anderen Individuums denken kann oder: dessen Perspektive einnehmen kann.
Wenn etwas überhaupt Zweck an sich/Endzweck sein kann, dann ist es ein Mensch a) in der Eigenperspektive oder b) in der eingenommenen Perspektive eines anderen Menschen oder c) ein lebendes Wesen im Zustand der absoluten Unfähigkeit, sich selbst oder andere Lebewesen bloß als Mittel zu benutzen (zu unterdrücken). Entweder ist man also Element einer friedlichen Welt bereits von Natur oder man kann eine Nutzung nur als Mittel dadurch relativieren oder aufheben, dass man sich selbst unabhängig macht und das eigene ‚Selbst‘ als letztes Ziel in der Reihe der eigenen Ziele bestimmt. Gelingt das, dann entsteht ein autonomer, in sich und durch sich gültiger Zusammenhang aus Definiens und Definiendum des eigenen Wollens, Strebens und Tuns.
Das ‚Selbst‘ ist aber dabei nicht als ‚Ego‘ zu verstehen, sondern als komplexe innere Steuerungseinheit. Sein Wesen besteht in der Realisierung von bzw. im Streben nach Nicht-Unterdrückung. Das ist der Kern, nichts anderes.
Im äußeren Leben innerhalb z. B. einer Gesellschaft hat sich jede und jeder an die geltenden Regeln und an geltendes Recht zu halten sowie, bitteschön, die Manieren an den Tag zu legen, die man in der Kinderstube beigebracht bekommen hat. In Demokratien gilt dabei: jede/r Einzelne ist nicht nur Empfänger/in von Anweisungen, sondern, jedenfalls potentiell, auch deren Autor/in. So gehören das Ringen und Debattieren und Argumentieren zentral zu einem Leben in Demokratie und Rechtsstaat dazu – und das ist gut so.
Dass das einzelne menschliche Leben im Kontext gruppengeprägter Erwartungen und Konventionen häufig durch Anker in der Vergangenheit (der Vergangenheit des Kollektivs) geprägt und normiert wird, wurde in den vorangegangenen Überlegungen durchweg als etwas dargestellt, das abzulehnen ist, oder das, wenn man schon daran hängt, als etwas grundsätzlich Zweitrangiges angesehen werden sollte. Denn: Zunächst und zuerst ist jedes einzelne menschliche und nicht-menschliche Leben ein Element des Kosmos. Wie auch der oben zitierte Seneca schreibt etwa Montessori: „Wir können die Existenz aller Lebewesen auf dieser Erde unter einem einheitlichen Gesichtspunkt betrachten. [...] Alle Lebewesen haben eine mehr oder wenige reine kosmische Mission auf der Erde“.190
Man kann die Lebenswurzel eines ‚kosmischen‘ Lebewesens gut verbinden mit dem eingangs vorgestellten Bild des zunächst kontemplativ gedachten zufriedenen In-sich- und Mit-Sich-Seins, das hier als eine Art ‚Herzstück‘ einer freien individuellen Existenz skizziert wurde. Dieses Herzstück benötigt keine Sprache und wurzelt auch nicht in Sprache oder Denken. Es ist keiner Verallgemeinerung oder Universalisierung zugänglich. Es nötigt vielmehr dazu, sich Individuen als Individuen zu nähern, sich dem eigenen Selbst als solchem zu nähern, und zwar jeweils in Formen, die ohne Bewertungen, die von irgendwelchen Konventionen abgeleitet sind, auskommen.
Menschen lehnen andere Menschen ab, fühlen sich von ihnen unverstanden und abgestoßen. Genauso können sie sich auch aneinander freuen. Ablehnung und Abgestoßensein beziehen sich häufig auf bestimmte allgemeine Merkmale und Gruppenzugehörigkeiten. Wenn sich aber jemand an einem anderen Menschen freut, dann liegt das gerade nicht an allgemeinen Merkmalen. Freude an einem anderen Menschen entsteht, wenn Menschen auf Augenhöhe miteinander zu tun haben; wenn sie ihr Menschsein miteinander teilen, aber eben so, dass sie es als individuelle Personen tun. Das schließt alle Situationen aus, in denen ein Mensch einen anderen unterwirft, ausnutzt, belügt. Schon intuitiv würden wir ja solche Zusammenhänge auch nicht mit dem Ausdruck der Freude konnotieren. Sicher kann man sich auch über andere Dinge freuen, über Sonnenaufgänge, ein gutes Essen oder den Kontostand. Da gilt die Freude aber nicht einem anderen Menschen, sondern der Erfüllung eines Bedürfnisses oder einer Sehnsucht. Menschen können sich auch über Leistungen anderer freuen, z. B. in wirtschaftlicher, sportlicher, politischer oder kultureller Hinsicht. Auch dabei freut man sich aber eher an einer Funktion innerhalb eines bestimmten Kontextes, an Zahlen, Erfolgen, Ergebnissen.
Was in jedem Falle ein Aneinander-Freuen grundsätzlich verunmöglicht, ist, wenn Menschen anfangen, andere in bestimmte Gruppen einzusortieren, über die sie dann bestimmte Aussagen treffen möchten. Das fängt schon bei Familien oder bei der Zuordnung zu einem Geschlecht an, das geht über Herkunfts- oder Religionszugehörigkeiten und endet bei politischen oder anderweitigen Verdammungen. Wenn man so die Welt strukturieren möchte, wenn man die Rechte und Bedürfnisse bestimmter Gruppen in den Vordergrund stellen möchte, und sei es nur, um herrschende Machtverhältnisse zu stürzen, befestigt man fortwährend Denkformen, die sich aus einem Gruppendenken und damit aus Vergangenem speisen. Die Idee individueller Freiheit wird damit gerade nicht anerkannt und in ihrer Radikalität gewürdigt – vermutlich auch, weil die meisten Menschen dem oder der ‚Einzelnen‘ keine politische Durchschlagskraft zusprechen. In der Annahme, dass man innerhalb einer Gruppe mehr Gehör findet, oder dass man durch Gruppendenken politische Stabilität und Sicherheit befördern kann, wirkt man einer Stabilität und Sicherheit aber meines Erachtens letztlich gerade entgegen, denn man befördert die Verunmöglichung des Aneinander-Freuens sowie Angst, Xenophobien, Hass und Ausgrenzung.
Respekt, den man in einer globalisierten Welt als mindesten Kredit bei oder vor einer Begegnung mit bekannten oder unbekannten Menschen fordern kann, sollte sich aus der in den oben angestellten Überlegungen skizzierten Fähigkeit speisen: ich kann jemand anderen oder ein anderes Lebewesen als Zweck an sich selbst verstehen, und nicht nur als ein Mittel zur Erreichung bestimmter Zwecke. Noch besser wäre es, wenn Respekt daraus resultiert, dass ich mich an dem oder der Anderen als Menschen oder an dem Lebewesen als Lebewesen freuen kann. Dann ist das Freuen so etwas wie ein Staunen. Und Staunen ist ein wesentliches Moment vergangenheitsfreien Daseins.
Auch über sich selbst kann man sich freuen, aber auch und gerade da sollte man genauer hinsehen, worum es geht: geht es um Sättigung oder die Erfüllung eines Bedürfnisses, um die Erbringung einer Leistung, die gefordert ist (durch jemanden selbst oder andere) oder worum geht es? Vermutlich passiert es nicht häufig, dass ich mich wirklich und wahrhaftig einfach nur an mir selber erfreue. Von diesem Gedanken ausgehend schlage ich den Bogen zurück zum Beginn dieses Textes: Der dort skizzierte Kernzustand individueller Freiheit lässt annehmen, dass er in seiner jeweiligen Ausformung zu tiefer Zufriedenheit führen wird. Menschen in solchem Zustand werden, so scheint es mir mehr als plausibel zu sein, andere weder betrügen oder bestehlen noch sie mit Hass überschütten oder Kriege gegen sie führen wollen.
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1 Aus solchen Überlegungen heraus sind ja überhaupt Ideen von radikaler individueller Freiheit entstanden: Vor dem Hintergrund staatlicher, kirchlicher, religiöser, kultureller Autoritäten und deren Vorschriften für das einzelne Leben sowie deren Restriktionen, was die Ergebnisse eigenen Denkens betraf, haben Menschen überall auf der Welt immer wieder die Notwendigkeit gesehen, sich zu emanzipieren. Immer sind solche Bestrebungen den Herrschenden eine Zumutung gewesen, und immer befanden diese Bestrebungen und die dazugehörigen Menschen sich in der Gefahr, dass Regime sie auszulöschen oder wegzusperren gedachten.
2 Montessori 1913, 91.
3 Siehe z. B. Naumann 1977, 15 und passim
4 Aus: Titus Macchius Plautus, Asinaria, 495. Oft wird der Satz verkürzt zitiert als ‚Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.‘ (siehe z. B. Thomas Hobbes: De Cive – Motto).
5 Vgl. z. B. Wetzel 1985, 9 f., der unter anderem kurz auf Heidegger eingeht.
6 Reinalter 1989, 25.
7 Hermann-Otto 2005, 56 f.
8 Klein 1988, 10.
9 Klein 1988, 13.
10 Klein 1988, 14.
11 Klein 1988, 17.
12 Klein 1988, 17.
13 Klein 1988, 20.
14 Klein 1988, 21-27.
15 Klein 1988, 39.
16 Klein 1988, 42.
17 Klein 1988, 60.
18 Klein 1988, 61.
19 Klein 1988, 62, mit Verweis auf Röm. 6, 14 ff., 6, 20, 7, 5 oder Gal. 4, 3; 8 u.ö.
20 Klein 1988, 66.
21 Klein 1988, 87.
22 Klein 1988, 112 f.
23 Klein 1988, 115.
24 Klein 1988, 125.
25 Klein 1988, 133.
26 Klein 1988, 163 f.
27 Klein 1988, 217.
28 Klein 1988, 217 f.
29 Klein 1988, 218.
30 Klein 1988, 219.
31 Klein 1988, 220.
32 Klein 1988, 224.
33 Klein 1988, 225.
34 Kontoulis 1993, 2.
35 Kontoulis 1993, 2 f.
36 Exemplarisch seien davon genannt: H. Wallon: Histoire de l’esclavage dans l’antiquité, 3 Bände, Paris. – P. Alard: Les esclaves chrétiens depuis les premiers temps de l’église jusqu’à la fin de la domination Romaine en occident, Paris (EA 1876). – Karl Marx: Das Kapital III. – Lenin: Über den Staat, 1929. – G. Kehnscherper: Die Stellung der Bibel und der alten christlichen Kirche zur Sklaverei. Eine biblische und kirchengeschichtliche Untersuchung von den alttestamentlichen Propheten bis zum Ende des Römischen Reiches, 1957.
37 Siehe z. B. Paulus, Gal. 3, 28; 1. Kor. 12,13 f.; Kol. 3, 11.
38 Kontoulis 1993, 27 f.
39 Kontoulis 1993, 115 f.
40 Kontoulis 1993, 192 f.
41 Kontoulis 1993, 208.
42 Kontoulis 1993, 209.
43 Kontoulis 1993, 210.
44 Kontoulis 1993, 211.
45 Kontoulis 1993, 211 f.
46 Kontoulis 1993, 219.
47 Kontoulis 1993, 221.
48 Kontoulis 1993, 227.
49 Kontoulis 1993, 231.
50 Kontoulis 1993, 231, mit Verweis auf PG (Partologiae cursus completus, Series Graeca, hg. v. J.-P. Migne) 44, 615 ff. und 1189 f.
51 Kontoulis 1993, 232 f.
52 Kontoulis 1993, 233.
53 Kontoulis 1993, 236 f.
54 Kontoulis 1993, 255.
55 Kontoulis 1993, 256.
56 Kontoulis 1993, 257 f.
57 Kontoulis 1993, 274 f.
58 Kontoulis 1993, 276.
59 Kontoulis 1993, 303.
60 Kontoulis 1993, 326.
61 Kontoulis 1993, 370.
62 Kontoulis 1993, 382.
63 Kontoulis 1993, 387.
64 Kontoulis 1993, 398 f.
65 Everett 1998, 10.
66 Aristoteles: Politik 1 (A), 4.1253 b.
67 Chiusi 2008, 71 f.
68 Chiusi 2008, 72.
69 Chiusi 2008, 73.
70 Vgl. N’Diaye 2010, 24 und passim.
71 Kaemmel 1966, 369.
72 Vgl. z. B. Code Noir 1743. – Das Dekret wurde in seiner ersten Fassung (die insbesondere auf Jean-Baptiste Colbert zurückgeht) 1685 von König Louis XIV, 1724 erneut, in seiner zweiten Fassung (es fehlen die Artikel 5, 7, 8, 18 und 25), von König Louis XV erlassen.
73 Haedrich 2005, 282.
74 Vgl. dazu z. B. Ramsay 1784.
75 Koselleck 1979, 211-259.
76 Koselleck 1979, 211.
77 Koselleck 1979, 212.
78 Koselleck 1979, 224, mit Verweis auf Diogenes Laertios 6, 38. 63
79 Koselleck 1979, 226.
80 L. ANNEI SENECA AD SERENVM DE OTIO; als Fragment überliefert und normalerweise in acht zusammenhängenden Abschnitten präsentiert. Die hier relevante Stelle steht im 4. Abschnitt, zu Beginn (IV.1-IV.2): „Duas res publicas animo complectamur, alteram magnam et uere publicam [...], alteram cui nos adscripsit condicio nascendi“.
81 Koselleck 1979, 227.
82 Siehe dazu z. B. Israel/Mulsow 2014.
83 Peabody 1996, 3: „‘There are no slaves in France.‘ This maxim is such a potent element of French national ideology that on a recent trip to Paris to do research on ‚French slaves‘ I was informed by the indignant owner of a boarding house that I must be mistaken because slavery had never existed in France. The maxim is a very old one, thriving at least two hundred years before the phrase ‚Liberté, egalité, fraternité‘ echoed in the streets of Paris.“
84 Charles de Secondat, Baron de Montesquieu: De l’esprit des loix, ou du rapport que les loix doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les moeurs, le climat, la religion, le commerce, &c. Genf 1748; Leiden 1749.
85 Vgl. dazu die Zusammenfassung des vorliegenden Kapitels.
86 Pufendorf 1667.
87 Vgl., mit Bezug auf Voltaire, Cornelia Klettke: „Lukianischer Spott im Epochenwandel – Zu Voltaires Conversation de Lucien, Érasme et Rabelais dans les Champs-Élysées“. In: Klettke/Wöbbeking 2015, 19-30, hier: 30.
88 Swift 1726.
89 Morus 1516.
90 Vgl. dazu auch Voltaire 1765. Es unterhalten sich Voltaire (als Lukian), Erasmus, Rabelais und Swift. – Erasmus in seinem Encomion Moriae (1509), Lob der Torheit oder: Narrheit, hatte die philosophische Blickweise verändert, indem er die Narren zu Weisen werden lässt.
91 Lahontan 1704.
92 Bitterli 1991, 411. – Unter anderem zu nennen: Voltaire 1759; Voltaire 1767; Wezel 1776; Diderot 1796.
93 Cassirer 1932, 221.
94 Ebd. Vgl. auch Bitterli 1991, 272: Bei Voltaire in erster Linie leitend sei das Ziel, „von Urteilen loszukommen, welche die Vorzüglichkeit der eigenen Kultur zum obersten Maßstab nehmen“. M. E. muss man zusätzlich sehr genau lesen, um Voltaires satirische Polemik zu erkennen; wannimmer er z. B. Gott, den Schöpfer, den Herrn der Welt als handelnde Instanz bestimmter Vorgänge in der Welt benennt, darf man das keinesfalls wortwörtlich nehmen.
95 Vgl. Voltaire 1756.
96 „The black Colour [...] distinguishes them from the rest of Mankind [...]. I have taken notice [...], how difficultly the Colour is accounted for; and tho‘ it be a little Heterodox, I am persuaded the black and white Race have, ab origine, sprung from different-coloured first Parents.“ (Atkins 1737, 39).
97 Ihr Begründer, der Calvinist De la Peyrère, hatte 1655 zeigen wollen, dass es vor Adam und Eva bereits andere Menschen gegeben habe, die am 6. Tag der Schöpfung geschaffen worden und die Stammeltern anderer Völker seien; Adam sei nur der Stammvater der Juden. Sein „Werk wurde auf Verfügung des Pariser Stadtrates verbrannt; der Verfasser mußte seine Thesen öffentlich widerrufen“ (Bitterli 1970, 110). Vgl. Peyrère 1655.
98 Bitterli 1970, 111.
99 Z. B. Malfert 1733.
100 Vgl. z. B. Bitterli 1970, 70 f.
101 De Pauw 1768/1769.
102 T. 73 (1774, Mai, S. 63-127 und S. 361-389).
103 In den Sitzungen vom 24.1.1775, 10.7. und 19.11.1776; vgl. Histoire de l’Acad. Roy. des Inscriptions et Belles Lettres T. 40 (1780), Abteilung Mémoires. „Selbstverständlich bleibt de Pauw in der Polemik ungenannt.“ (Beyerhaus 1926, 465).
104 Beyerhaus 1926, 465. Heute ist Abbé de Pauw vergessen. Er wurde 1739 in eine holländische Gelehrten- und Diplomatenfamilie in Amsterdam geboren und starb 1799 in Xanten. Nach seiner Zeit bei den Jesuiten in Lüttich und Köln, aus der bei ihm eine Art Jesuitenhass resultiert, kommt er 1767 durch den Zufall einer Gesandtschaft nach Berlin bzw. Potsdam, setzt sich in höfischen Kreisen fest, wird zeitweise der Vorleser des Königs und zu einer Art Attraktion bei Hofe.
105 Vgl. Gates/Curran 2022 zur Preisfrage der Akademie in Bordeaux und zu der dadurch angestoßenen Debatte.
106 Dieser Satz wurde schon unter Zeitgenossen meistens falsch zitiert oder wiedergegeben; z. B. in Edward Longs dreibändiger History of Jamaica als: „none but the blind can doubt“ (Anonymus 1774, Bd. 2, 336).
107 Vgl. Diderot/D’Alembert, Encyclopédie, 76-83.
108 Montesquieu, De l’Esprit des Loix – Vom Geist der Gesetze, 15. Buch.
109 Wortlaute gemäß der deutschen Ausgabe von 1782.
110 Nirgends sonst in zeitgenössischen Texten vor 1764 konnte ich (bislang) diesen oder einen ähnlichen Ausdruck finden.
111 „Die, von welchen die Rede ist, sind schwarz vom Haupt bis zum Fuß“ (Wortlaut in der deutschen Ausgabe von 1782).
112 Kant nimmt durchaus auch explizit Bezug, hier auf Labats Reisebeschreibung (Labat 1722; andere Ausgabe: Labat 1728).
113 Kant 1764, 254 f.
114 Kant 1764, 214. Das Wort findet sich im gesamten Druckwerk 18mal; in den Beobachtungen 15mal.
115 Kant 1764a, 263.
116 Kant 1800, 236.
117 David Hume [zum ersten Mal steht sein Name auf einem Buchtitel]: ESSAYS, MORAL AND POLITICAL. By DAVID HUME, Esq; [...]. London: Millar/ Edinburgh: Kincaid 1748; darin Essay No. XXIV „Of national Characters“ (267-288). 1753 wird die fragliche Fußnote ergänzt (die der Autor später wiederum ändert). – Vgl. dazu, mit weiteren Literaturhinweisen, Asher 2022.
118 Die erste Übersetzung des Essays erschien 1756: „Vierundzwanzigster Versuch. Von Nationalcharakteren“ (Hume 1756, 324-351), aber die fragliche Fußnote fehlt vollständig. Die nächste deutsche Übersetzung erschien (nun inklusive Fußnote) in: Pockels 1788, 51-89, als: „D. Hume‘s Versuch über die Nationalcharactere“. Vgl. dazu auch die Rezension in: ADB (Allgemeine Deutsche Bibliothek), Bd. 28, 1. Stck. Berlin/Stettin: Nicolai 1789, 123-125.
119 Shaftesbury 1711. 3. Teil, 1. Abschnitt, 289 f.: „But if the defining material and immaterial Substances, and distinguishing their Propertys and Modes, is recommended to us, as the right manner of proceeding in the Discovery of our own Natures, I shall be apt to suspect such a Study as the more delusive and infatuating, on account of its magnificent Pretension.“
120 Rabelais 1532-1564. Im vierten Buch (1552), im 8. Kapitel, ist vom Papagei die Rede, den man nicht so leicht zu Gesicht bekäme; er sei ein bisschen schlecht sichtbar von Natur. Dann aber klappt es doch, und man besichtigt ihn im Käfig, nebst zwei kleinen Kardingeien und sechs großen Episcopogeien. Es kommt die Frage auf, ob er eventuell ein Simpel sei usw.
121 Vgl. den übersetzten (anonymen) Pufendorf: „Nor is this [the German] Nation less to be admired and commended for their Mechanick Arts and Ingenious Manufactures“ (in: Anonymus 1690, 157).
122 Kant 1802, § 4: „Die Peruaner sind in der Art einfältig, daß sie alles, was ihnen dargeboten wird, in den Mund stecken, weil sie nicht im Stande sind einzusehen, wie sie eine zweckmäßigere Anwendung davon machen könnten. Jene Leute, die die Zeitungsnachrichten nicht zu benutzen verstehen, weil sie keine Stelle für sie haben, befinden sich mit diesen armen Peruanern [...] in einem sehr ähnlichen Falle“ (163).
123 Kant 1802, Teil 2, § 2 (313). Dies steht auch schon in Vorlesungsnachschriften der 1750er Jahre (vgl. AA Bd. 26/1, 88).
124 Kant 1764, 253.
125 Kant 1764, 254.
126 Vgl. auch Voltaire 1756, Einleitung VII: „Des sauvages“. Hier werden ebenfalls die ‚Wilden‘ und die Spartaner analogisiert.
127 Vgl. dazu z. B. Cornelia Klettke: „Heterotopie und Heterologie in Voltaires Candide“. In: Klettke/Wöbbeking 2015, 131-164, hier: 158 ff.
128 Vgl. Kant 1793, 262.
129 In der Religion in den Grenzen bloßer Vernunft heißt es: „Kriegstapferkeit ist die höchste Tugend der Wilden in ihrer Meynung“, und auch in der bürgerlichen Welt sehe das der militärische Stand so, dessen „Großthaten“ im Zusammenhauen, Niederstoßen ohne Verschonen bestünden. Der angeblich höhere Zweck, dem dieser folge, bestehe letztlich nur in seiner eigenen Überlegenheit und in der Zerstörung, auf die man auch noch stolz sei (Kant 1794, 33).
130 In der Schrift Zum ewigen Frieden heißt es: „Der Krieg [...] scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu seyn und sogar als etwas Edles, wozu der Mensch durch den Ehrtrieb ohne eigennützige Triebfedern beseelt wird, zu gelten: so daß Kriegesmuth (von amerikanischen Wilden sowohl, als den europäischen in den Ritterzeiten)“ immer für wertvoll erklärt werde, auch wenn gar kein Krieg sei (Kant 1795, 365).
131 Kant 1797, 351.
132 Vgl. Kant, Critik der reinen Vernunft, A 575 B 603: „Der Blindgebohrne kann sich nicht die mindeste Vorstellung von Finsterniß machen, weil er keine vom Lichte hat; der Wilde nicht von Armuth, weil er den Wohlstand nicht kennt“.
133 Vgl. Kant 1797, 344.
134 In seiner kulturkritischsten Schrift Versuch über die Krankheiten des Kopfes führt Kant aus, vor welchen ‚Störungen des Gemüts‘ ein „Mensch im Zustande der Natur“ sicher sei (Kant 1764a, 269), aber er idealisiert diesen nicht. Vgl. auch Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht: Es sei vernünftig, „aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen und in einen Völkerbund zu treten“ (Kant 1784, 24). Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: „Der Wilde (noch nicht an Unterwürfigkeit Gewöhnte) kennt kein größeres Unglück als in diese zu gerathen und das mit Recht, so lange noch kein öffentlich Gesetz ihn sichert; bis ihn Disciplin allmählig dazu geduldig gemacht hat. Daher sein Zustand des beständigen Krieges, in der Absicht andere so weit wie möglich von sich entfernt zu halten“ (Kant 1800, 268).
135 Kant 1802, 260.
136 Kant 1802, 316.
137 Kant 1800, 191.
138 Vgl. die abschlägig beantwortete Frage in der Rechtslehre, ob der Übergang zwischen Natur- und zivilisiertem Zustand explizierbar sei, wozu es heißt: Die „Wilden errichten kein Instrument ihrer Unterwerfung unter das Gesetz, und es ist auch schon aus der Natur roher Menschen abzunehmen, daß sie es mit der Gewalt angefangen haben werden“ (Kant 1797, 340).
139 Kant 1802, 430: „Unter den vielen Nationen der Wilden, [...], sind die Tapajer die berühmtesten“.
140 Es ist einmal in der Physischen Geographie von „wilden und gastfreyen Nationen“ (a. a. O., 410), und es ist dreimal in der Pädagogik von „wilden Nationen“ die Rede (Kant 1803, 442, 458, 496).
141 Eine dieser Stellen ist die Begriffsbestimmung im § 53 der Rechtslehre: Ein Volk sei ein ideelles Konstrukt, sollte aber besser als Staat bezeichnet werden, auch sollte es besser Staatenrecht und nicht Völkerrecht heißen; Menschen im Naturzustand bildeten letztlich auch „Völkerschaften“ (Kant 1797, 343).
142 Kant 1764, 253; Kant 1802, 432 f.
143 Kant 1802, 316.
144 Kant 1797, 266.
145 Kant 1802, 230.
146 Kant 1802, 248.
147 Kant 1802, Teil 2, § 4 (317 f.).
148 Kant 1775/77, 429. In der Überarbeitung von 1777 ist diese Passage nicht enthalten.
149 Kant 1775/77, 429, 430, 431, 434-435.
150 Kant 1775/77, 430.
151 Kant 1775/77, 440.
152 Kant 1775/77, 432.
153 Kant 1775/77, 440.
154 Ebd.
155 Kant 1775/77, 441.
156 Kant 1775/77, 442.
157 Kant 1788, 181.
158 Kant 1800, 119.
159 Kant 1800, 120.
160 Buffon 1749-1789, z. B. im Artikel: „De l’asne“ (Bd. 4, 386).
161 Kant 1785, 62.
162 Bei Girtanner (1796) sind die Amerikaner ‚zimtfarben‘, ihre Haut fühle sich „wie Atlas“ (141); die Haut afrikanischer Menschen „wie Sammet“ an (108). Die letzte Beschreibung liest man auch bei Kant, in einer der Vorlesungsnachschriften über Physische Geographie (AA 26/2: 506).
163 Kant 1775/77, 437.
164 „Unsere gepletschte Nasen müßen von den Tartern nach Europa gebracht seyn.“ – Kant, Vorlesungen über Phys. Geographie (AA 26/2: 109).
165 Kant 1775/77, 438.
166 Z. B. bei Christian Wolff, Deutsche Teleologie, § 388.
167 Kant 1775/77, 438; Vorlesungen über Phys. Geographie (AA 26/2: 109 f.).
168 De La Croze (1661-1739) war teils Hauslehrer der preußischen Königsfamilie und ein umfassend belesener und gebildeter Gelehrter seiner Zeit; er wirkte insbesondere als Bibliothekar in Berlin.
169 Vgl. De La Croze 1740, 66 f.
170 Bei Poncet 1713, 99, ist die Rede von: „le nez écrasé, les levres grosses & épaisses“.
171 Kant 1802, § 1 (312) und an späterer Stelle (407).
172 Kant 1775/77, 438.
173 Kant 1802, 315, 414.
174 Vgl. Diderot/D’Alembert, Encyclopédie.
175 Barrère 1741.
176 Dieser Text war ein Beitrag zu der Preisfrage (1739) der Académie in Bordeaux. Vgl. dazu im Ganzen Gates/ Curran 2022. – Vgl. auch De Pauw 1768, 181.
177 Die Seitenangaben sind jeweils bezogen auf Kant 1802.
178 Seifert 1986, 86
179 Vgl. Godel/Stiening 2012. Vgl. zu dieser Thematik auch Geier 2022, 91-95.
180 Kant 1802, Teil 1, § 3 (159).
181 Der Band 26 als ganzer bringt chronologisch Mitschriften von Kants Studenten aus den 1750er, 1770er, 1780er und 1790er Jahren. Sie kursierten in zeitgenössischen Abschriften, aber nicht in mit Publikationen vergleichbaren ‚Auflagenstärken‘. Auf den Seiten 1093-1116 bildet der Band 26/2 eine im Jahr 1838 von Johann Adam Bergk (unter Pseudonym Fr. Ch. Starke) veröffentlichte gedruckte Ausgabe kantischer „Betrachtungen über die Erde“ ab. Sie basiert auf Material der 1790er Jahre.
182 Vgl. dasselbe in Kant 1794, 26.
183 Kant schreibt in seinem letzten Handbuch: „Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionirlich zu entwickeln“, damit der Mensch „seine Bestimmung erreiche“ (Kant 1803, 445).
184 Russell 1935, 96 f.
185 A. a. O., 100 f.
186 A. a. O., 102 f.
187 A. a. O., 117. Vgl. dazu insgesamt auch besonders Boehm 2022.
188 Vgl. Blumenbach 1789, zuerst veröffentlicht im Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte. Das Magazin wurde von Georg Christoph Lichtenberg begründet und nach seinem Tod 1799 fortgeführt von Johann Heinrich Voigt. Voigt war der erste Herausgeber (1797/98) kantischer Schriften überhaupt.
189 Johann Georg Krünitz (Hg.): Ökonomisch-technologische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft, Kunst- und Naturgeschichte in alphabetischer Ordnung [1798-1813]. Berlin: Pauli. – Artikel ‚Race‘ in: Bd. 120 (1812), 251-269.
190 Montessori 1973, 107 f.